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17 Mai 2017

Meine Hilfe ist unerwünscht

Immer wenn ich eine Nachricht von Kalle Schwensen im Posteingang habe, durchzuckt es mich bang. Denn es droht die Gefahr einer Begegnung mit ihm, und die hat gewöhnlich Folgen für meine körperliche Integrität, gerade dann, wenn Kalle Schwensen einem grundsätzlich freundlich gesinnt ist. 

Diesmal lud er mich ein, und zwar zu seinem „Hardcore-Fight-Event“ am 10. Juni. Wobei Kalle Schwensen unter „Einladung“, wie sich rasch herausstellte, etwas anderes versteht als der gemeine Durchschnittsbürger. Der gemeine Durchschnittsbürger nämlich hebt bei diesem Begriff erfreut die Braue, erwartet Freigetränke, ein von kurzberockten Promomodels dargereichtes Flying Buffet und generell einen Abend, an dem man auf die Mitführung von Bargeld getrost verzichten kann.

Nicht so bei Kalle Schwensen. Seine „Einladung“ bestand darin, dass ich für 600 Tacken seinem Freistilboxereignis hätte beiwohnen dürfen. Ich lehnte mit dem Argument ab, dazu sei ich zu zart besaitet. Außerdem habe ich gerade genug von Leuten, die K.O. gegangen sind. So wie neulich auf dem Tschaikowsky-Platz.

Ich war gerade dort eingebogen, als ich zwei Räder herumliegen sah, daneben zwei Menschen. Der eine war weiblich und saß verstört auf dem Boden, der andere, ein behelmter, etwas teigig wirkender Mann, lag einige Meter entfernt augenscheinlich bewusstlos auf Bauch und Gesicht und gab jämmerliche Stöhnlaute von sich.

Mehrere Personen stürzten herbei, ich zückte mein Telefon, wählte die 112 und meldete einen Fahrradunfall mit Verletzten. Man komme sofort, hieß es. Inzwischen war die Frau hinübergerobbt zu ihrem Kontrahenten, der wieder erwacht war und sich in eine sitzende Position gehievt hatte. Seine Beine lagen flach auf dem Pflaster des Tschaikowsky-Platzes, die Füße kippten nach außen.

„Der Notarzt ist gleich da“, sagte ich zu den Opfern, um ihnen in all ihrem Leid eine hoffnungsvolle Perspektive zu bieten. Die Frau schaute hoch. Am Kinn hatte sie eine Schürfwunde so groß wie ein Ein-Euro-Stück. „Nicht nötig“, sagte sie, „ich bin Ärztin.“

Das konsternierte mich. Wie konnte sie, auch wenn sie Ärztin war, wissen, was dem Mann fehlte – hätte er nicht über ein Schädel-Hirn-Trauma, einen Lungenriss, gebrochene Rippen oder derlei verfügen können? Und wer weiß, was sie selbst außer der Wunde am Kinn noch alles abgekriegt hatte. So was merkt man unterm Einfluss der unfallbedingten Adrenalinflut ja oft erst später.

„Aber der Notarzt sollte sich das schon einmal anschauen“, beharrte ich auf das übliche Procedere. Der Mann schüttelte kraftlos den Kopf, während er ins Leere starrte. „Nein, schon gut“, hauchte er. „Das wäre wirklich nicht nötig gewesen“, sagte die Ärztin mit nunmehr verärgertem Unterton und – zu dem Mann gewandt –: „Das ist bestimmt nur der Schreck, nicht wahr?“

Er nickte. „Vor allem für meine neue Hüfte.“

Anscheinend verstand diese Jüngerin Aeskulaps unter ärztlicher Sorgfaltspflicht etwas entschieden anderes als der gemeine Durchschnittsbürger, den ich dort, auf dem Tschaikowsky-Platz, bereits zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit zu repräsentieren die Ehre hatte.

Aber was sollte ich machen? Mir blieb nur die Hoffnung, dass der Notarzt einträfe, ehe die Ärztin ihren hüftoperierten Schicksalsgenossen vom Ort des Geschehens weggeschafft hatte. Denn wahrscheinlich – so die Vermutung von Ms. Columbo, als ich ihr die Geschichte erzählte – trug sie die alleinige Schuld am Unfallgeschehen und wollte sich keiner Investigation stellen.

Aber wahrscheinlich werden wir das niemals erfahren, denn ich überließ die beiden ihrem Schicksal. Auch mein Fass hat Grenzen.

Foto: kalle-schwensen.de


19 Juni 2014

„Was soll ich jetzt machen?“


Während des Englandspiels lautes Wehklagen draußen. Vom Balkon aus sehe ich einen großen muskulösen Mann afrikanischer Herkunft, der mitten auf der Straße steht und weint. 

„Oh nein“, schluchzt er, „mein Hund ist tot! Was soll ich jetzt machen?“ 

Vor ihm liegt sein lebloser Hund, anscheinend überfahren. Es ist erschütternd, diesen Brocken von Mann weinen zu hören. Immer wieder klagt er sein „Oh nein!“ in die Dämmerung, in gebrochenem hohen Ton, den wahrscheinlich noch nie jemand von ihm gehört hat und den er nicht mal selber an sich kennt. Ein anderer Mann steht daneben und telefoniert, wenige Meter weiter warnblinkt sein Unfallwagen.

Zwei Jungs laufen vorbei, auf dem Weg in die Kieznacht. Und als sie unter unserem Balkon vorbeigehen, fangen sie an sich lustig zu machen über den weinenden Mann, der gerade seinen Hund verloren hat.

„,Mein Hund! Mein Hund!’“, äfft der eine mit Kieksstimme den Trauernden nach, „,was soll ich jetzt machen, huhuhu’?“ Sein Kumpel stimmt glucksend ein; sie haben richtig Spaß. Guter Auftakt für eine lange Nacht.

Die Polizei kommt und füllt Formulare aus. Der tote Hund liegt jetzt auf dem Gehweg, er ist ein Versicherungsfall. 

Und der große schwarze weinende Mann weiß noch immer nicht, was er jetzt machen soll.

04 Juni 2014

Ich hatte Grün!


Direkt hinterm Lessingtunnel war meine Radfahrt unversehens zu Ende, und zwar sehr abrupt. Eine Frau in meinem Alter – Psychotherapeutin, wie ich nur wenige Minuten später unter unschönen Umständen erfahren sollte – wollte von der Gegenspur aus abbiegen und nahm mich und mein Fahrrad gepflegt auf die Hörner. 

Ich versuchte nach rechts auszuweichen, doch es war nix mehr zu machen. Mir gelang noch irgendwie eine halbe Körperdrehung, dann donnerte ich ihr gegen Tür und halb auf die Kühlerhaube, zerdepperte dabei ihren Seitenspiegel, fabrizierte – ich glaube, mit dem Ellenbogen – eine Beule im oberen Kotflügel und krachte dann auf den Asphalt, mit dem linken Glutaeus maximus, aber wenigstens nicht mit dem (unbehelmten) Kopf voraus. 

Dort saß ich erst mal und musste mich neu sortieren. Alles schien noch halbwegs an der richtigen Stelle verblieben zu sein. Rasch umringten mich viele Leute, einige riefen die Polizei, andere den Notarzt, die Psychotherapeutin beugte sich über mich. 

„Aber ich hatte doch Grün!“, war das erste, was mir zu sagen einfiel, und das war die reine Wahrheit, wenngleich leicht kontaminiert mit Vorwurf und einem Gran Empörung. Kurz danach entfaltete die bergende Bürokratie der deutschen Unfallerfassungs- und -bewältigungsmaschinerie ihre beeindruckende Schlagkraft. 

Ich tatterte am Arm eines Fachmanns Richtung Notarztwagen, während mein Hintern allmählich Kim-Kardashian-artige Ausmaße annahm (allerdings – aus geschilderten Gründen – auf recht asymmetrische Weise), Polizisten mit Kameras dokumentierten jedes Detail, Papierkram wurde routiniert erledigt. Inzwischen staute sich der Verkehr wahrscheinlich runter bis zur Elbchaussee, denn alle Beweismittel mussten natürlich erst mal auf der Kreuzung liegenbleiben. 

Die Psychotherapeutin bewies auch in dieser Krisensituation eine Ruhe und Contenance, die sie zweifellos ihrer langjährigen Berufserfahrung entwrang. Sie gab alles zu, erkundigte sich nach meinem Wohlbefinden und lenkte das persönliche Gespräch behutsam weg von der doch nicht ganz optimalen Situation hier am Lessingtunnel („Was machen Sie eigentlich beruflich?“).

Inzwischen bin ich wieder zu Hause, betrachte die Schürfwunden und kühle den Glutaeus maximus mit Kompressen. 90 Tage, sagte der Polizist, der meine Aussage („Sie sind nämlich Zeuge“) aufnahm, hätte ich nunmehr Zeit, Anzeige wegen fahrlässiger Körperverletzung gegen meine einfühlsame Kontrahentin zu erstatten. 

Mehr Gedanken mache ich mir momentan allerdings darüber, ob hinfort nicht doch ein Fahrradhelm mein kahles Haupt zieren sollte.

Es war nämlich – wie schon hier und da – mal wieder verdammt knapp.

PS: Das Foto oben habe ich übrigens noch im Sitzen gemacht. Sage einer, Kriegsdienstverweigerer (wenn Sie sich noch an diesen Adelstitel erinnern können) seien nicht pflichtbewusst.

11 Februar 2012

Eigentlich schlage ich meine Frau ja nicht



Just in dem Moment, als wir nach herrlich gefährlichem Herumgerutsche zwischen Alsterterrasse und Hotel Atlantic die zugefrorene Alster (Foto) wieder verlassen wollten, schmiss es mich doch noch gepflegt auf den Hintern.

Ich blieb unverletzt. Während des Falls schlenkerte ich allerdings mit dem Halt suchenden rechten Arm derart wild durch die Luft, dass ich Ms. Columbo, die noch vergebens einzugreifen versuchte, binnen einer Zehntelsekunde sowohl einen Kinnhaken als auch einen Nasenstüber verpasste.


Und das, lieber Slapstickgott, hätte nun wirklich nicht sein müssen.

Sie steckte es jedoch weg wie Joe Frazier anno 71 und half mir einfach wieder auf. Zum Dank servierte ich ihr abends Weißwürste mit Händlmaiers süßem Senf. Dass sie allerdings auf halber Strecke den Senf aus- und Heinz’ Tomatenketchup einwechselte, darf südlich der Elbe niemals auch nur ansatzweise bekannt werden.

Das müssen Sie mir versprechen.

23 Januar 2010

Tod einer Taube

In Freddys Imbiss in der Hein-Hoyer-Straße werden täglich Dutzende toter Vögel gegrillt. Heute aber war auch der Asphalt vor dem Eingang kein guter Ort für diese Spezies.

Eine Taube flatterte auf gewohnt gelassene Weise in letzter Sekunde auf, als ein Wagen von der Simon-von-Utrecht-Straße einbog. Doch diesmal hatte sie sich verschätzt. Sie geriet unter die Vorderfront, und obwohl der Fahrer ein wenig bremste (ohne ein Anhalten auch nur zu erwägen), wurde der Vogel vom rechten Vorderreifen erwischt.

Mit einem hässlichen kleinen Hoppler setzte der Wagen seine Fahrt fort. Die Taube lag reglos da. Nur ein Flügel ragte einige Sekunden lang hoch und senkte sich dann in zeitlupenhafter Eleganz auf den noch erstaunlich runden Körper.

Irgendwann, nach Hunderten gegrillter toter Vögel in Freddys Imbiss, wird dieser Körper gleichsam verschmolzen sein mit dem Asphalt der Hein-Hoyer-Straße, und ein paar festgebackene Federhärchen werden im Fahrtwind wehen, wenn ein Auto darüberfährt.

Zum Glück hatte Ms. Columbo im entscheidenden Moment nicht hingeschaut, nur ich. Und ich finde meine Ungerührtheit erschreckend.

(Beispielfoto)


16 August 2008

Mist.

Der Kasten Bier auf dem Gepäckträger schien mir eigentlich recht stabil befestigt gewesen zu sein.

Warum er dennoch in dem Moment, als ich losfuhr, mitten auf der Paul-Roosen-Straße zerschellte, während die Beatles schräg gegenüber zu feixen schienen, ist mir auch jetzt, acht Stunden nach dem Desaster, noch nicht ganz klar.

Angesichts der empört aufschäumenden Bierlache und den bösartigen Veltinsscherben kam der Verkehr in diesem Teil St. Paulis jedenfalls minutenlang zum Erliegen. Während meiner Aufräumarbeiten (auch ein Sechserpack Eier und mehrere Jogurtbecher verlangten nach artgerechter Entsorgung) begann es kraftvoll zu regnen, was immerhin den Biergestank, den ich inzwischen angenommen hatte, etwas minderte.

Was mich am meisten erstaunt, ist die Gelassenheit, mit der meine Neurotransmitter das alles wegsteckten. Das spontane, klanglich irgendwie ausrufezeichenlose „Mist.“, mit dem ich die Situation unmittelbar nach dem Aufprall des Bierkastens unwillentlich kommentierte, bewegt sich auf dem Erregungsniveau von Bernd dem Brot.

Es folgten wort- und weitgehend gedankenloses Aufräumen, der Heimtransport der überlebenden fünf Flaschen und die Rückkehr zum Laden, um den Eierverlust auszugleichen.

Und jetzt kann es beginnen, das Wochenende. Angeblich soll es sonnig werden.


03 August 2008

„Sag was, irgendwas!“

Auf dem Gehweg gegenüber unserer Wohnung liegt eine leblose Gestalt. Sie ist umringt von vier jungen Männern, das sehe ich vom Balkon aus.

Dorthin hatte es mich gezogen, weil immer wieder laute Rufe von draußen hochgedrungen waren. „Volkan!“, rufen sie auch jetzt. Es ist nach ein Uhr nachts, und Volkan antwortet nicht mehr.

Just als ich seufzend die 112 anrufen will, kommt bereits die Feuerwehr. „Volkan, sag was, komm, Volkan!“, ruft einer der Freunde dem Leblosen zu. „Sag was, bitte! Ja, nein – irgendwas!“

Doch sein Kumpel sagt nichts. Als die Sanitäter Volkan auf die Fahrtrage legen, rutschen seine beiden Arme anmutig synchron zur Seite hinab und baumeln ausgestreckt im Nichts. Die Sanitäter werfen sie ihm über den Bauch, und dann fahren sie weg mit ihm, einer ungewissen Nacht entgegen.


Die Zurückgebliebenen gehen davon. Zu viert. Keiner von ihnen hat Volkan begleitet.

PS: Das Foto zeigt die Folgen eines Farbunfalls ganz in der Nähe. Eventuelle Zusammenhänge zum geschilderten Ereignis wären rein zufällig. Wenn überhaupt.



16 Juni 2008

Feucht, und am Ende auch fröhlich



Forsch bog ich am Hamburger Berg rechts ein in die Taxigasse der Reeperbahn und sah aus dem Nichts ein Taxi rückwärtsfahrend auf mich zukommen.

Reflexartig stieg ich in die Eisen auf regennasser Straße, legte mich ergo gepflegt hinter den Mercedes, und während ich zappelnd auf dem Rücken lag wie ein betrunkener Maikäfer, wartete ich ergeben darauf, überrollt zu werden.

Doch der nette Mann hatte seinen höflichen Tag und stoppte. Ich rappelte mich auf, alles war noch dran. Er kurbelte das Fenster runter und sagte: „Das war nicht meine Schuld.“

Er schien Türke zu sein. Als wir so dastanden, Schicksalsgenossen im Beinahunglück, wussten wir beide noch nicht, dass sein Team heute Abend ins EM-Viertelfinale einziehen und die Fans erneut hupend und hysterisch den Kiez lahmlegen würden – und zwar zu seinem Schaden, denn wie kann man als Taxifahrer Umsatz machen, wenn man definitiv die ganze Nacht nicht mehr rauskommt aus der Taxigasse, weil zehntausende Fans den Verkehr kollabieren lassen?

Ähm, wo war ich? Ach ja: bei der Schuldfrage. Nein, nein, natürlich treffe ihn keine Schuld, beschwichtigte ich ihn, setzte mich zitternd aufs Rad und fuhr vorsichtig zum Flohmarkt in der Museumsstraße, wo ich stapelweise Vinyl und CDs (Foto) für empörend wenig Geld erstehen konnte, darunter mehrere klasse erhaltene Zappascheiben aus den 60ern für keine drei Euro das Stück.

Nach dem Präludium – dem fast folgenlosen Kontakt mit der feuchten Straße – folgte als Finale also nun der feuchte Traum eines jeden Plattensammlers. So konnte ich ein insgesamt äußerst positives Fazit dieses Sonntags ziehen.

Nur die neue Hose musste gleich am ersten Tag in die Wäsche.

02 Juni 2007

Versuch einer Busfahrt

Seit 15 Jahren schon hat der notorische CO2-Privatproduzent und Klimawandelbeschleuniger GP keinen Bus mehr bestiegen, aus diversen Gründen: weil sie ihm immer zu voll waren und zu prollig, weil die Mitfahrer stanken und ein bestürzender Mangel an rahmengenähten Schuhen ihm jede Fahrt vergällte.

Das ist im 21. Jahrhundert alles nicht mehr so, hatte ich ihn immer mal wieder zu beruhigen versucht. Gerade im Schnellbus, trumpfte ich gelegentlich auf, seien freie Platzwahl und dezente Passagiere schier an der Tagesordnung. Es handle sich bei einer solchen Unternehmung quasi um eine Stadtrundfahrt, nur viel billiger.

Als wir nun gestern Abend eine gemeinsame Party im nicht gerade fußnahen Uhlenhorst aufsuchen wollten, ließ er sich endlich einmal breitschlagen zum Busfahren, nach 15 abstinenten Jahren. Ich stieg an der Davidstraße zu, GP saß schon drin. Mir schwante sofort Übles.

Der Bus nämlich war voll wie die Reeperbahn nachts um halb eins. GP hatte zwar noch einen Platz ergattert, fuhr allerdings rückwärts und wurde von benachbarten Passagieren räumlich eingeengt. Gleichwohl versuchte der Gentleman in ihm, den ausgestrahlten Missmut nicht als Vorwurf an mich rüberkommen zu lassen.

„Was ist denn los?“, fragte ich und versuchte meinerseits, die Bestürzung, die mich sowieso bereits ergriffen hatte, mimisch als Erlebnis einer absoluten Ausnahmesituation zu codieren, so dass GP keinesfalls dem Glauben verfallen könnte, im Bus sei es immer so, wie sich die momentane Lage darstellte (was er ja sowieso 15 Jahre lang angenommen hatte).

Eine erfahrene Hanseatin im eleganten Kostüm klärte mich auf: „Die S-Bahn fährt nicht – Personenschaden. Da weiß man ja schon, was los ist.“ Sie lächelte so schmerzlich wie verschwörerisch. Ja, das weiß man in der Tat.

Ich stellte mich in den Gang und versuchte mimische Entschuldigungssignale Richtung GP auszusenden. Er sah aus dem Fenster. Zeitgleich wurde ich abgelenkt, und zwar olfaktorisch.

Neben mir nämlich stand ein grauer älterer Herr mit Pennytüte, dessen Haare seinem hellgrauem Jacketkragen einen feinen Fettschmier aufpinselten; und von ihm ging eine warme Dunstwolke aus, die mich inzwischen schmeichelnd umschloss und ihr Volumen stetig vergrößerte, und zwar in Richtung GP.

Die Dunstwolke roch nach Urin.

In diesem Augenblick zerbrach etwas in mir, vor allem meine bereits hektisch imaginierte Argumentationskette, mit der ich GP nach dem Aussteigen einen weiteren Busfahrversuch in näherer Zukunft hatte abringen wollen.

Nein, das war’s. Die Quote rahmengenähter Schuhe brauchte ich nicht mal mehr zu ermitteln. Zumal ich auch selbst keine trug.

06 April 2006

Eins für alle, alle für einen

Kaum lugt der Frühling zaghaft um die Ecke, habe ich einen Platten. Kurz vor der Neuen Großen Bergstraße – nicht fern von jener Stelle, wo ich und mein Rad einst von einem Auto teilzerlegt wurden – stelle ich plötzlich einen unheilvollen Rollwiderstand fest. Natürlich versuche ich das Problem zunächst mit simplem Aufpumpen zu beheben, liege aber hundert Meter weiter schon wieder lahm.

Interessanterweise ist von solchen Schäden stets das für mich irreparable Hinterrad betroffen. Mein Fahrrad hat sieben Gänge plus Rücktritt, und dieses heillose Gewirr von Ketten, Speichen und Zahnrädern dort hinten sieht aus, als bräuchte man ein Vordiplom zum Schlauchwechsel. Wahrscheinlich war es damals einfacher, Apollo auf den Mond zu schaffen, als heutzutage einen Siebengangrücktritthinterreifen zu wechseln.

Fazit: Ich brauche Hilfe. Von unerschrockenen Fachleuten. Da meine bisherige Stammwerkstatt in Ottensen nach den empörenden Vorfällen vom Oktober für immer und ewig plus drei Tage tabu ist, folge ich Andreas’ Tipp und bringe es zu Rad und Tat.

Dort stellt man mir unbürokratische Hilfe in Aussicht und hält Wort. Heute, als ich das Rad wieder abholen will, ist der Schlauchschaden behoben. Allerdings informiert man mich über eine „unvollständige Schaltung“. Mit Verwunderung frage ich nach, denn die Schaltung war unmittelbar vor dem Platten keineswegs unvollständig. Ich benutzte sie munter, schaltete rauf und schaltete runter; nur der siebte Gang ging nicht, wie ich gegenüber Rad und Tat einräumen muss.

Gegenüber meinen Argumenten zeigt man sich indes hartleibig und führt mir das Problem vor Augen: Die sogenannte Klickbox ist weg. Das ist quasi die Kommandozentrale für jeden Schaltvorgang. Die Klickbox ist fürs Schalten so wichtig wie die Großhirnrinde fürs Denken. Und jetzt ist sie weg.

Ich versichere, sie sei noch dagewesen, als ich das Rad vorbeibrachte. Kann nicht sein, erwidert man, und beharrt auf der Sprachregelung „unvollständige Schaltung“. Ob denn das Rad die ganze Zeit vorm Laden auf dem Hof gestanden hätte, frage ich listig. Man bejaht. Ob dann nicht vielleicht jemand unbemerkt seine Klickboxsammlung hätte vervollständigen können, frage ich. Man verneint. „Haben Sie etwa die ganze Zeit, ununterbrochen, ständig, immer den Hof im Blick vom Laden aus?“, schieße ich mit wohldosierter Schärfe eine gerichtsthrillertaugliche Fangfrage ab. Aber ja, erwidert man festen Blicks und wiederholt mit Vehemenz die mir allmählich auf den Senkel gehende Theorie von der bereits angelieferten unvollständigen Schaltung.

Unser Diskurs dreht sich inzwischen im Kreis; zumindest in diesem Punkt muss ich dem Verkäufer, der es als erster bemerkt, Recht geben. Zugleich wird die Stimmung zwischen uns immer eisiger. Aber es steht halt Aussage gegen Aussage, These gegen These, und keiner von uns wird je beweisen können, wie es wirklich war – zumal mir einfällt, dass mein Rad ja
noch den ganzen Tag über platt nahe der Redaktion geparkt hatte. Vielleicht vervollständigte wirklich jemand tagsüber seine Klickboxsammlung auf Kosten meines Rads, und ich schob es abends Richtung Werkstatt, ohne den Verlust zu bemerken.

Durch diese selbstzweiflerischen Überlegungen sehe ich meine Position entscheidend geschwächt. Also verzichte ich auf den ganz großen Terz und versuche zähneknirschend dem schließlich ausgehandelten Kompromiss etwas Positives abzugewinnen: Ich werde die Klickbox und ein paar notwendige Kleinigkeiten bezahlen (insgesamt FÜNFUNDVIERZIG Euro!), dafür berechnet man nichts für die Montage.

Dennoch: In diesem Leben werde ich kein Freund mehr von Fahrradläden. Doch wie ohne sie auskommen? Ich könnte eine alte Lieblingsidee von mir, die sich auf Schirme bezog, in die Sphäre der Drahtesel übertragen. Hier der Vorschlag, und ich bitte um zustimmende Handzeichen:

Fahrräder gelten ab sofort als sozialisiert, als Gemeingut. Wer eins benötigt, schwingt sich einfach aufs nächstbeste und stellt es am Ziel wieder ab, natürlich genauso unverschlossen und ungesichert, wie er es am Start vorfand. Dir gehören also alle Räder und keins. Und wenn eins kaputt geht, findest du sicher binnen Minuten ein intaktes – schau dich einfach um, eine Welt ohne Bügelschlösser ist voller Möglichkeiten.

Die Entsorgung der Wracks übernimmt praktischerweise die Stadtreinigung. Und die Kosten? Nun,
mit rund einem abgezwackten Promille von der 2007 anstehenden Mehrwertsteuererhöhung lässt sich eine Vollversorgung mit sozialisierten Fahrrädern sicher finanzieren.

Hauptsache, ich brauche nie, nie mehr eine Werkstatt aufzusuchen.

Ex cathedra: Die Top 3 der Songs mit Radelbezug
1. „Small price of a bicycle“ von The Icicle Works
2. „Girl on a bicycle“ von Ralph McTell
3. „Bike“ von Pink Floyd

05 März 2006

Auf Rügen zwischen Baum und Borke

Zwar leben wir auf dem Kiez, und das ist auch schön und gut, doch manchmal müssen selbst wir der heimeligen Gesellschaft der Bordelle und Bordsteinschwalben, der Luden, Freaks und bayerischen Kegelvereine entsagen. Vom Urlaub auf Sardinien berichete ich ja bereits mehrfach, nämlich hier und da; doch nicht immer zieht es uns weit in die Ferne. Denn das Gute liegt so nah.

Als Beispiel für diese These möchte ich das auf immer und ewig „neue“ Bundesland Mecklenburg-Vorpommern anführen. Dort gibt es viel flaches Land sowie die kaum weniger flache Ostsee, und weil die schöne Insel Rügen zurzeit aus wenig schönen Gründen im Gespräch ist, möchte ich mit einem kleinen Reiserückblick an jene selige Zeit erinnern, als dort weder Menschen vor den Vögeln zittern mussten noch umgekehrt.

In jener Zeit waren keine toten Schwäne, sondern Schlaglöcher das große Ding. Wenn ich mal Millionär werden will, denke ich von Zeit zu Zeit immer noch versonnnen, dann verkaufe ich Stoßdämpfer auf Rügen. Ein todsicheres Geschäft, sofern es gelänge, eine Stammkundschaft zu gewinnen. Doch genau das ist die Schwierigkeit. Der gemeine Meckpommer hat nämlich die kürzeste Lebenswerwartung in der ganzen vereinigten Republik. Warum? Aus mehreren Gründen.

Zum einen säuft er wie ein Rügener Schlagloch; mit der guten alten Leberzirrhose steht der Meckpommer zeitlebens auf du und du. Darüberhinaus hat er weitere Techniken entwickelt, um seine Zeit hienieden zielgerichtet zu begrenzen. Dabei spielen Automobile als Hilfsmittel eine wichtige Rolle. Gerne misst der Insulaner zum Beispiel die Kräfte seines BMW mit jenen der wunderschönen Alleebäume, wobei ihm die sichtbaren Ergebnisse bisheriger Wettkämpfe dieser Art (nämlich je ein Kreuz mit Blumengebinde vor einem Baum mit Borkenschaden) nicht im mindesten vom Glauben abbringen, er werde der erste sein in der ruhmarmen Geschichte Mecklenburg-Vorpommerns, der diesen Tort gewänne.

Während seiner knapp bemessenen Zeit auf der Rügener Krume kümmert sich der Bewohner derselben also vor allem um dreierlei: das Verhindern von Straßenbauarbeiten, das Zusammennageln eines Kreuzes für Kumpel Perry (das Gebinde steckt die Verlobte) sowie das Erfinden allerwunderlichster Wörter. So begegneten uns auf Schritt und Tritt so skurrile Gesellen wie „Herrenhalbarmhemden“, „Fusselrasierer“, „Pachttoilette“ und „Superstimmungstag“. Wer nach all diesen inseltypischen Tätigkeiten noch Kapazitäten übrig hat, stellt sich an die Ostsee und wirft Angeln aus, ohne je etwas zu fangen, zumindest in meinem Beisein nicht.

Der Rügener ist also enorm ausgelastet, so dass er es natürlich nicht schaffen kann, auch noch tote Schwäne vom Strand zu klauben. Wobei damals, als wir dort waren, überhaupt keine Schwäne zu sehen waren, nicht mal lebendige.

Wer nun aber denkt, den Meckpommer bekümmerte sein statistisch kurzes Leben und all die anderen Umstände, die ihm das Inselleben vermiesen, der täuscht sich. Solange er seine Pulle knuddeln und mit dem Nachfolger von Kumpel Perry anstoßen kann, solange geht’s ihm prächtig. Außerdem bleibt ihm ja noch die Vorfreude auf anständige Schlaglöcher nachher auf der Heimfahrt, die er unbeschwert von Fischmorden und kräftig bedüdelt antritt. Oftmals entwickelt der Rügener, während er so durch die Alleen bollert, spontan die Idee, mal anzutesten, wer stärker ist, BMW oder Baum. Ergebnis: ein Kreuz mit Blumengebinde plus Borkenschaden – und ein Kunde weniger, der mich als Stoßdämpfermagnaten zum Millionär machen könnte.

Erstaunlicherweise schaffen es übrigens einige Inselbewohner dennoch bis zur wohlverdienten Zirrhose. Aber das soll ja auch auf dem Kiez vorkommen, wohin wir damals erleichtert, aber um viele Erfahrungen reicher zurückkehrten. Das Foto zeigt übrigens keine strandbummelnden Rügener, sondern Usedomer, weil ich auf Rügen keine Kamera dabeihatte, aber auf Usedom.

Wie man sieht, steht Mecklenburg-Vorpommern immer wieder auf unserem Reiseprogramm. Obwohl es uns beim Millionärwerden wahrscheinlich doch nicht entscheidend helfen kann.

Ex cathedra: Die Top 3 der Songs für den Strand
1. „On the beach“ von Neil Young
2. „Surfin’ USA“ von The Beach Boys
3. „Rockaway beach“ von The Ramones

05 Februar 2006

Die meisten Unfälle passieren zu Hause

Manchmal agiere ich im Haushalt recht tölpelhaft, vor allem beim Staubsaugen. Es gelingt mir zum Beispiel regelmäßig, Ms. Columbos Radiowecker (Foto) derart zu touchieren, dass er losplärrt und von mir nicht mehr zum Schweigen zu bringen ist. Ihre Stirnfalte bei Behebung des Problems würde ich gerne fotografisch dokumentieren und hier abbilden, aber ich darf nicht.

Heute passierte mir etwas ganz Originelles. Beim Saugen des neuen Multifunktionsdruckers schaffte ich es, irgendwie die Faxfunktion zu aktivieren. Aber nicht nur das: Das Gerät wählte eine mir bis dato völlig unbekannte Nummer in Frankfurt. Während ich verzweifelt auf den Kasten einschlug, um den ganzen Vorgang zu stoppen, hörte ich auch schon die typischen Fiepgeräusche eines freudig auf die Avance aus Hamburg reagierenden hessischen Faxapparates, welcher dann auch eifrig die Nachricht entgegennahm, während ich bis zuletzt wie wahnsinnig alle möglichen Tasten drückte, vergebens.

Was ich gefaxt habe: keine Ahnung. Ein Blatt jedenfalls lag nicht drin, aber vielleicht war noch etwas im Speicher. Bin jedenfalls gespannt auf die Antwort. Und auf Ms. Columbos Reaktion, wenn sie diesen Blog-Eintrag liest.

Eine andere Topaktion gelang mir damals beim Aufhängen einer hölzernen thailändischen Glücksgöttin, die wir auf dem Flohmarkt erstanden hatten. In Ermangelung einer ausreichend großen Leiter – wir haben sehr hohe Decken – stellte ich unser zweibeiniges Alumodell auf den Wohnzimmerflachtisch. Zwar konstatierte ich eine nur unwesentlich unter der Tischlänge angesiedelte Spreizbreite der Leiter, doch mir war unklar, welche Folge das Hochsteigen haben würde: Sie spreizte nämlich die Beine noch etwas weiter, und das reichte aus, um mit Karacho über die Tischkante zu rutschen.

Alles brach zusammen, Matt plus thailändischer Glücksgöttin krachten auf den Tisch, ich mit dem Steiß voran. Es war kein schönes Gefühl. Allerdings tat die früh geforderte Göttin ihre Pflicht – ich brach mir nicht das Rückgrat.

Ich finde übrigens Handwerker total unterbewertet.


Ex cathedra: Die Top 3 der epischsten Balladen
1. „The ballad of Emma Deloner“ von Midnight Choir
2. „Comfortably numb“ von Pink Floyd
3. „Carnival“ von Dead Can Dance


22 November 2005

Der Unfall

Erschreckend, wie leicht man Alltagsrollen wechselt und zugleich die Fähigkeit verliert, darüber zu reflektieren. Als Autofahrer erregst du dich über Radfahrer, die dir in der Einbahnstraße entgegenkommen, als Fußgänger nerven dich um Haaresbreite vorbeizischende Drahtesel, und als Radfahrer plagen dich VERDAMMT NOCH MAL BRÄSIGE FUSSGÄNGER, DIE BLIND AUF RADWEGE ZUSTOLPERN, OHNE AUCH NUR EINE SYNAPSE IHRES SPATZENHIRNS AUF DEN GEDANKEN ZU VERWENDEN, NACH LINKS UND RECHTS ZU SCHAUEN!

Zurzeit bin ich immer noch überwiegend Radfahrer, daher das Geschrei. Kleinen Kindern bringt man bei, sich sorgfältig umzusehen, bevor sie Wege oder Straßen betreten. Spätestens mit der Pubertät scheint diese nützliche zivilisatorische Fähigkeit wieder verloren zu gehen. Dabei hilft sie doch dabei, die eigenen Gene weiterzugeben. Merkwürdige Evolution.


Dumpf einherwankende Fußgänger sind für unsereins dennoch das kleinere Übel. Schlimmer sind (natürlich) Autos. Mich hat mal in der Louise-Schroeder-Straße eine Fahrerin auf die Kühlerhaube genommen, als sie den von mir gerade benutzten Radweg zeitgleich passieren wollte. Fahrrad und ich flogen auf die zweispurige Straße, ich fand mich etwa in der Mitte wieder, und als ich mich etwas verwirrt umschaute, sah ich in wenigen Metern Entfernung eine Phalanx von Autos gleichmütig an der roten Ampel stehen, bereit zum Losfahren.


Die Autofahrerin saß schreckensstarr in ihrem Wagen, neben mir lag die zerklumpte Drahtstahlgummiskulptur, die mal mein Rad gewesen war. Ich erhob mich vorsichtig und versuchte, innerlich irgendwelche immobile oder schmerzende Körperzonen zu sondieren, konnte aber nichts feststellen. Ich war komischerweise komplett unversehrt. Der Clark Kent von Hamburg.


„Keine Polizei!“, wimmerte die unter Schock stehende Fahrerin, die sich als Türkin erwies. Ich fand unter Verweis auf meine nicht beeinträchtigte Physis trostreiche Worte und schlug vor, sie möge mir doch das Rad unter Umgehung aller Instanzen einfach informell ersetzen, und die Sache sei erledigt. Ein Betrag von 125 Euro für das einige Monate zuvor fürs Doppelte erstandene Gefährt schien mir fair. Ihr auch – wobei sie wahrscheinlich zu allem Ja und Amen gesagt hätte, in ihrem Zustand.


Abends klingelte das Telefon. Sie war dran; ob wir nachverhandeln könnten. Im Hintergrund war die Stimme ihres Mannes zu hören, der Anweisungen und Gesprächstaktik soufflierte. Ich war zu verblüfft und zugleich amüsiert, um dem aufsteigenden Ärger Raum zu geben. So ließ ich mich um 25 Euro runterhandeln.


Irgendwann später wurde mir klar, dass ich den Radweg in die falsche Richtung befahren hatte. Aber sie hätte wirklich auch mal gucken können.

Das Foto zeigt übrigens, wo man im Bedarfsfall gut ein neues gebrauchtes Rad beschaffen könnte. Ist aber leider Amsterdam.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Touch me in the Morning“ von MFSB, „Be thankful for what you've got“ von William Devaughn und „Lichterloh“ vom Kammerflimmer Kollektiv.


16 September 2005

Der Start

Die Seilerstraße verläuft parallel zur Reeperbahn. Vom Wohnzimmer aus sehe ich die Rückseite jener Häuser, deren Vorderfronten jedes Wochenende hunderttausende von Kiez-Besuchern an sich vorübergehen und -wanken sehen. Einige dieser Leute verirren sich regelmäßig in die Seilerstraße, meistens um sich den Gang auf öffentliche Toiletten zu sparen.

Unsere Hausratversicherung sagt, wir hätten die deutschlandweit höchste Risikostufe. Dafür ist im Lauf der Jahre eigentlich wenig passiert. Einmal fuchtelten ein paar Jungs mit Messern herum. Eine unbekannte Nachbarin sprang aus dem vierten Stock auf den Bürgersteig, als wir gerade das Haus verließen, das war sehr unschön. Ein Geräusch, das man nicht mehr vergisst. Es erinnert an … Wasser. Als wenn eine riesiger Plastiksack mit Wasser zerplatzt.

Gegenüber stand mal ein BMW, und zwei Paare um die 20 zogen sich ein paar Linien Koks rein. Das war während des Schlager-Moves, der St. Pauli regelmäßig durchschüttelt mit seinem „Hossa!“-Terror, mit durchgeknallten Gerade-so-Twens, die komische bunte Klamotten tragen und stundenlang gegen die Verzweiflung ihres Lebens ansaufen, während sie lauthals „Grieschischäwein!“ lallen.

Manchmal marodieren auch Fans der Gegner des FC St. Pauli durch die Straße, dann taucht die Polizei auf, und vom Balkon aus haben wir Live-Unterhaltung, ohne das Fernsehen anschalten zu müssen.

Tja, wer weiß, ob das alles so idyllisch bleibt in der Seilerstraße. Ich halte euch auf dem Laufenden, sporadisch.