30 November 2005

Der Verdächtige

Am Bahnhof Altona sitze ich im 37er gegenüber der mittleren Tür, lese Spiegel und warte, dass der Bus abfährt. Mein Blick fällt auf einen Mann mit Bartschatten, der vor der Tür steht, obgleich noch Plätze frei sind. Er wirkt arabisch, trägt einen dicken Parka, Handschuhe und einen Rucksack auf dem Rücken. Er blickt unstet umher, und mir wird plötzlich unwohl. Was, wenn er … Ich höre auf zu lesen und überlege, ob ich aussteigen soll. Der nächste Bus fährt in zehn Minuten, und ich bin in Eile.

Soll ich? Quatsch! Oder doch?


Wir haben eine neue Kanzlerin, die noch einen braunen Hals hat von ihrem damaligen Besuch bei Irak-Krieger Bush, mit dem sie der deutschen Regierung in den Rücken fiel. Und im Irak wurde gestern eine deutsche Staatsbürgerin entführt. Kann es nicht sein, dass wir jetzt ebenso auf der Liste stehen wie England und Spanien?


Der Mann an der Tür schaut umher. Warum setzt er sich nicht? Sein Parka beult sich, der Rucksack ist prall. Ich bin wie versteinert. Die Türen flappen zu mit einem dumpfen Zischen, und der Bus fährt los. Die wahrscheinlich lächerliche Entscheidung, auszusteigen und auf den nächsten zu warten, ist mir abgenommen worden.

Der Spiegel liegt auf meinem Schoß. Ich beobachte den Mann, der sich jetzt umdreht und durch die Türscheiben in die Dunkelheit starrt. Sein Rucksack wölbt sich mir schwarz entgegen. Der Mann hält sich mit einer Hand an der Stange fest. Sein Körper schwankt im Zusammenspiel von Gravitation und Fliehkraft.


Wann würde es passieren? An einer Ampel? Wenn der Bus die Reeperbahn hochfährt? Vielleicht an der Haltestelle Davidstraße, wo die Sünde und Verderbtheit der westlichen Welt sich verdichtet zur grandiosen Verhöhnung seines Glaubens? Oder will er zur U-Bahn, in einen Tunnel, zum Hauptbahnhof?


Die nächste Haltestelle, Altonaer Poststraße. Der Bus stoppt, die Türen zischen auf. Der Mann steigt aus. Ich sehe, dass er ein steifes Bein hat. Er hätte sich gar nicht hinsetzen können, so eng, wie die Sitzreihen aneinander gebaut sind.


Ich bin beschämt und erleichtert. Abends im bretonischen Restaurant Ti Breizh in der historischen Deichstraße esse ich einen Schoko-Marzipan-Crêpe, für den Adam jederzeit den Garten Eden verlassen hätte. Über die Ost-West-Straße huschen die Lichter der Autos; und das würden sie auch, wenn abends irgendwo in der Stadt ein Bus explodiert wäre.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Two wrongs won't make things right“ von Tarnation, „Summer dress“ von Red House Painters und „Sight of you“ von Pale Saints.


29 November 2005

Das grelle Licht

Was vom Rade übrig blieb … Diese auf den Rahmen reduzierte Ruine fristet an der Kreuzung Rendsburger und Simon-von-Utrecht-Straße ihre Tage. Bianchi: gute Marke. Das Schloss scheint allerdings noch hochwertiger zu sein, sonst hätte der Fahrradteiledieb doch wohl das komplette Objekt seiner Begierde konfisziert.

Übrigens liegt dieses traurige Überbleibsel eines Fortbewegungsmittels in unmittelbarer Nähe eines Eckhauses, in dessen Souterrain eine Großfamilie gleichsam öffentlich lebt. Das weiß ich deshalb so genau, weil die Bewohner in der Regel auf jede Verschleierung ihres tagtäglichen Treibens verzichten.

Vorne, direkt an der zweispurigen Simon-von-Utrecht-Straße (Spitzname: „Stadtautobahn“), steht der Esstisch. Er ist meist reich gedeckt mit kleinen Schweinereien, und oftmals – eigentlich häufiger, als es die üblichen Essenszeiten nahelegen würden – sind an seinen Gestaden diverse Familienmitglieder traulich versammelt. Sie neigen übrigens alle nicht wenig zur Körperfülle.


Die Küche geht ohne Trennwand ins rückwärtig gelegene Wohnzimmer über, weshalb in der Regel mindestens ein dickes Kind auf die Couch gefläzt zu erleben ist, wo es mit Fernbedienungen herumhantiert. Dies alles sieht man unweigerlich im Vorübergehen.

Vor allem abends ist der Blick nahezu ungetrübt. Dann ist die ganze Pracht dieses geradezu holländischen Wohnkonzeptes in grellweißes Licht getaucht, von dessen Liebreiz auch türkische Kneipen und Bistros auf dem Kiez durchweg in den Bann geschlagen sind.

In diesen öffentlichen Treffs sitzen Männer – es sind immer Männer – beim Kartenspielen und Fußballgucken beisammen, und das schrille Licht der zahlreich anwesenden OP-Lampen bringt jedes einzelne ihrer üppigen Ohrhaare liebevoll zum Glänzen und Erglühen.

Ich wette, all diese Männer würden recht verunsichert herumdrucksen, wenn sie Gemütlichkeit definieren sollten.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Rialto“ von Laura Veirs, „Summer wine“ von Lee Hazlewood & Nancy Sinatra und „Deus ibi est“ von Isobel Campbell & Mark Lanegan.


28 November 2005

Der Blick ins Leere

Wir sahen den Hollywood-Thriller „Flightplan“ im Cinemaxx-Kino am Dammtor. Jodie Foster spielt eine traumatisierte Witwe, die den Sarg ihres Mannes von Berlin in die USA überführen will; und im Flugzeug geht ihr auch noch das einzige verloren, was ihr geblieben war: die kleine Tochter.

Kollege F., Hauptstadtfan und -kenner, monierte heute, es gebe gar keinen Direktflug von Berlin nach Amerika. Außerdem sei sogar mal kurz das Schild „Flughafen Leipzig“ zu sehen gewesen.


Was uns hingegen am meisten störte: Der komplette Plot steht und fällt damit, dass niemand an Bord das Mädchen bis zu seinem Verschwinden zu Gesicht bekommt – und der grotesk komplizierte Plan des perfiden Verbrecherduos
basiert genau auf dieser Unwahrscheinlichkeit.

Vielleicht ist es im Licht einer solchen Drehbuchschwäche auch gar nicht mehr so schlimm, auf Neufundland plötzlich FBI-Agenten herumturnen zu sehen. Na, denen würden die Kanadier im richtigen Leben aber was husten.


Auf der Berlinale 1989 habe ich Jodie Foster mal fotografiert. Damals wusste ich noch nichts von meiner beginnenden Kurzsichtigkeit. So etwas entwickelt sich ja schleichend, und als erstes bemerken es gewöhnlich die Freunde und Bekannten – und zwar daran, dass man sie im Kino von Monat zu Monat in weiter vorne liegende Reihen zerren möchte. Am Ende dieses schleichenden Prozesses stehen dann Selbsterkenntnis, verletzte Eitelkeit, Kassenbrille und schließlich der Triumph, im Kino wieder Logenkarten kaufen zu können.

Wie auch immer: Damals auf der Berlinale war ich noch längst nicht so weit, was man dem Bild leider deutlich ansieht. Doch Jodies versonnener Blick ins Leere, ihr Lauschen nach innen auf den kleinen Knopf im Ohr: Das ist noch da, das ist zeitlos schön.

Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Life and death in the afternoon“ von Jack, „Success“ von Iggy Pop und „Nearly motionless“ von Jeff Klein.


27 November 2005

Das ewige Teenie

Nena ist genau 48 Stunden jünger als ich. Als ich sie heute Abend auf der Bühne der Color Line Arena sah, schienen es mir drei Jahrzehnte.

Sie spielte das ewige Teenie. Graue Glitzerleggings, darüber ein fein funkelndes helles Minikleidchen, das zur Gänze sichtbar wurde, als sie ihr schwarzes Discolacklederjäckchen auszog. Das war beim dritten Stück, der unschuldig süßen Teenie-Anmache „Willst du mit mir gehn?“.

Ich bin zu alt für Nena, die nur 48 Stunden jünger ist als ich. Aber auch sie ist zu alt für diese Nena dort oben auf der Bühne der Color Line Arena.

Wir verlassen die Halle als erste. Draußen Ödnis. Eine Schlange gelangweilter Taxis steht herum. Einige Meter entfernt die pausierenden Shuttle-Busse, die stets die Arenamassen aus der Abgelegenheit Stellingens zurückkarren zur nächsten S-Bahn-Station, wo die Zivilisation andockt.

Ein Bus kommt, als wir uns an der sonst menschenleeren Haltestelle zeigen. Er fährt uns zur S-Bahn, uns ganz alleine. Ein elitäres Gefühl. Ich nehme mir vor, Jess Jochimsens Buch „ Flaschendrehen oder: Der Tag an dem ich Nena zersägte" zu lesen. Kriegt gute Kritiken, das Buch.

Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Vote Beeblebrox“ von Andy Dunlop & Neil Hannon, „Faded glamour“ von Animals That Swim und „Finding you“ von den Go-Betweens.


26 November 2005

Der Eigentumsschein

Ich marschiere bei Saturn in der Mönckebergstraße durch den Haupteingang, weil ich eine gestern gekaufte externe Festplatte umtauschen will. Eine Rolltreppe abwärts erreiche ich munter die zuständige Abteilung, wo ich meinen Wunsch vorbringe.

„Haben Sie einen Eigentumsschein?“, fragt mich der Saturnmensch. Keineswegs – was ist denn das? Nun, ein Nachweis, den man sich vor Betreten des Ladens holen muss und der einen als rechtmäßigen Eigentümer des eingeführten Gerätes ausweist.


Ich kann allerdings nur den Kassenzettel vorweisen. „Au, das ist schlecht“, ächzt der Mann. Er mustert mich mit einer Mischung aus Skepsis, Misstrauen und Mitgefühl. Dann führt er mich angespannt zur Information. Der Sicherheitsdienst wird gerufen. Wann ich denn das Haus betreten hätte und durch welchen Eingang. Vor fünf Minuten, Haupttor.

Es wird telefoniert. Der Überwachungszentrale werden meine Angaben geschildert. Das Security-Model bezeichnet mich als „Herr, der neben mir steht“, und erst in diesem Moment begreife ich, dass ich gefilmt werde. Immer noch. Denn natürlich auch schon beim Betreten des Geschäftes.


Jetzt muss Big Brother also die Aufzeichnung meines Entrees finden, man wird die Ausbeulung meiner Tragetasche vergleichen mit den Ausmaßen des Festplattenkartons. Und am Ende wird man beurteilen, ob meine Angaben korrekt sind oder ich einfach ein dilettantischer Tölpel bin, der mit Chuzpe und Kassenzettel versucht hat, den Megamarkt Saturn zu linken.

Ich könnte nach Abschluss der Untersuchung mit leeren Händen dastehen. Mir fällt der Matrose in B. Travens „Das Totenschiff“ ein, der seinen Pass verliert und damit gleichsam seine Existenz.


20 Minuten später kann ich die Festplatte umtauschen. Beim Hinausgehen sehe ich mich selbst auf einem Monitor, und ich versuche, unschuldig auszusehen. Auf der Stirn spüre ich einen hauchdünnen Schweißfilm.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Levitation Groove“ von Magic Sound Fabric, „River man“ von Brad Mehldau und „Groove“ von Sonica 2005 CELL.



25 November 2005

Die Herbertstraße

Der stürmische Wind treibt horizontale Schneeflockenschauer quer über die Reeperbahn, als ich mit einem Freund aus Hessen Richtung Fischmarkt rutsche.

Dort, im Metal-Schuppen Headbanger's Ballroom, spielt heute Abend TempEau, die Band von Jan Plewka und Marek Harloff. Direkt vor der Bühne: ein riesiger verspiegelter Pfeiler, der es einem unmöglich macht, die komplette Band zu sehen. Nur, wenn man sich vor den Trumm stellt, ist die Sicht ungetrübt – aber dann kann man dem Gitarristen fast schon das Plektrum klauen. Ein architektonisches Glanzstück.


Für Jan muss es ein bizarrer Trip gewesen sein von den einstigen Stadionkonzerten mit Selig vor 50.000 Zuschauern bis zum heutigen Abend, an dem sich vielleicht 50 kuttentragende Gestalten ins Headbanger's verirrt haben.

Und Marek (hier ein Foto aus einem Konzert in der Tanzhalle, weil ich blöderweise die Kamera vergessen hatte), der sonst Kinofilme dreht und umhegt wird von Set-Assistenten, trägt eine Plastitktüte mit Utensilien durch die Gegend, und am Ende darf er die Bühne selbst abräumen. Shit happens, aber die Jungs geben alles.
Hinterher erzählen sie davon, dass Stefan Raab sie für den Grand-Prix-Vorentscheid im Februar gebucht hat. Wir müssen alle grinsen. Das wird eine Schau!

Auf dem Rückweg gegen eins ist das Rotlichtviertel komplett weiß überzuckert. Die freilaufenden Huren verbergen widerwillig ihre Reize unter Skianzügen und dicken Fellstiefeln. Nur in der Herbertstraße nicht, weil sie dort in ihren kuscheligen Mottokabäuzchen sitzen. Sie klopfen von innen an die geschlossenen Scheiben, und man hört ihre Lockrufe gedämpft, wie durch Watte. Wenn ein Kunde stehenbleibt, öffnen sie ihre Fenster nur spaltweit – vor Hoffnungslosigkeit und Kälte.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Cowboys and angels“ von George Michael, „Autopsy“ von Fairport Convention und „Wiper“ von Amusement Parks On Fire.


24 November 2005

Der Hornby

Mein Freund, der sich unlängst wegen promisker S/M-Tendenzen von seiner Freundin trennte, erlebt gerade ein Happyend mit ihr: Er hat zu Versöhnungszwecken zwei Reitgerten gekauft (30 Euro).

Heute Abend las der britische Autor Nick Hornby im Knust, dazu spielte seine Lieblingsband Marah. Hornby, Verfasser von Geniestreichen wie „High Fidelity“ und „Fever Pitch“ und ebenfalls Autor leicht abfallender Werke wie „The long Way down“, lieferte eine ziemlich überraschende Erklärung für Nostalgie, und zwar eine mathematische.

Die Tatsache, dass uns die Vergangenheit immer besser erscheint als die Gegenwart, hat für ihn einen ganz simplen Grund: Es gibt einfach mehr davon. Sie hat Vorsprung, und zwar immensen. Dagegen kann die Gegenwart einfach nicht anstinken. Erst, wenn sie selbst zur Vergangenheit geworden ist. Und dann sieht es für die zukünftige Gegenwart wieder mies aus.


Wie man sieht, hatte der Abend auch etwas Philosophisches. Und Hornby eine wirklich phänomenale Glatze.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „How long“ von Zippy Wallace, „Tausendfach“ von Klee und „My sympathy“ von Bob Marley & The Wailers.


23 November 2005

Die kleine Geste

Ein Urlaubstag, sinnvoll genutzt zum mäandernden Einkaufen quer durch die Stadt. Bei Tchibo in der Mönckebergstraße habe ich 4,99 Euro zu zahlen, und als ich an der Kasse alles zusammenklaube, was in den Taschen herumfliegt, komme ich – man glaubt es kaum – auf exakt 4,98 Euro.

Nach Präsentation des Ergebnisses pausiere ich charmant lächelnd zwei Sekunden, um der Kassiererin Gelegenheit für die naheliegendste aller Entscheidungen zu geben: mir einen Cent zu erlassen. Sie lächelt zurück – und wartet. Also krame ich doch einen Schein raus.


Auf St. Pauli läuft das in der Regel etwas anders. In den kleinen türkischen Lebensmittelläden (und selbstverständlich auch in Renates Käse- und Weinladen) werden knappe krumme Beträge meist abgerundet. 8,02 Euro? Wortlos bekommt man auf einen Zehner zwei Münzen raus. Ich erwarte so etwas nicht, finde es aber zum Wiederkommen nett.

Aber vielleicht ist Tchibo einfach längst zu groß für kleine Gesten.


Danach geht's nach Altona, in die Beerenstraße. Sie zweigt ab von der Hamburger
Vierspurhölle namens Stresemannstraße, doch schon nach wenigen Metern erstirbt dort – in der Beerenstraße – alles Leben. Lagerhallenödnis macht sich breit.

Irgendwann auf der rechten Seite kommt dann das mediterrane Paradies: Andronaco heißt der riesige italienische Lebensmittelmarkt, und wenn ich mir ein Geschäft aussuchen müsste, in das man mich versehentlich über Nacht einschlösse, dann dieses.

Ich decke mich schwer ein mit Parmesan, Taleggio, Parmaschinken, Pasta, Amarettini und Espres
so, und draußen vorm Garten Eden erwartet mich wieder die bedrückende Industrietristesse der Beerenstraße, die ich ächzend fotografiere. Auch ein farbenfroher Fitzel Andronaco muss verewigt werden.

Im Bus schauen sie mich komisch an, weil aus meiner Umhängetasche ein Fünfkilosack Tortiglioni ragt. Ich schaue überlegen zurück.

Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Lodi“ von Creedence Clearwater Revival, „Everything must change“ von Randy Crawford und „My brain“ von Young MC.

22 November 2005

Der Unfall

Erschreckend, wie leicht man Alltagsrollen wechselt und zugleich die Fähigkeit verliert, darüber zu reflektieren. Als Autofahrer erregst du dich über Radfahrer, die dir in der Einbahnstraße entgegenkommen, als Fußgänger nerven dich um Haaresbreite vorbeizischende Drahtesel, und als Radfahrer plagen dich VERDAMMT NOCH MAL BRÄSIGE FUSSGÄNGER, DIE BLIND AUF RADWEGE ZUSTOLPERN, OHNE AUCH NUR EINE SYNAPSE IHRES SPATZENHIRNS AUF DEN GEDANKEN ZU VERWENDEN, NACH LINKS UND RECHTS ZU SCHAUEN!

Zurzeit bin ich immer noch überwiegend Radfahrer, daher das Geschrei. Kleinen Kindern bringt man bei, sich sorgfältig umzusehen, bevor sie Wege oder Straßen betreten. Spätestens mit der Pubertät scheint diese nützliche zivilisatorische Fähigkeit wieder verloren zu gehen. Dabei hilft sie doch dabei, die eigenen Gene weiterzugeben. Merkwürdige Evolution.


Dumpf einherwankende Fußgänger sind für unsereins dennoch das kleinere Übel. Schlimmer sind (natürlich) Autos. Mich hat mal in der Louise-Schroeder-Straße eine Fahrerin auf die Kühlerhaube genommen, als sie den von mir gerade benutzten Radweg zeitgleich passieren wollte. Fahrrad und ich flogen auf die zweispurige Straße, ich fand mich etwa in der Mitte wieder, und als ich mich etwas verwirrt umschaute, sah ich in wenigen Metern Entfernung eine Phalanx von Autos gleichmütig an der roten Ampel stehen, bereit zum Losfahren.


Die Autofahrerin saß schreckensstarr in ihrem Wagen, neben mir lag die zerklumpte Drahtstahlgummiskulptur, die mal mein Rad gewesen war. Ich erhob mich vorsichtig und versuchte, innerlich irgendwelche immobile oder schmerzende Körperzonen zu sondieren, konnte aber nichts feststellen. Ich war komischerweise komplett unversehrt. Der Clark Kent von Hamburg.


„Keine Polizei!“, wimmerte die unter Schock stehende Fahrerin, die sich als Türkin erwies. Ich fand unter Verweis auf meine nicht beeinträchtigte Physis trostreiche Worte und schlug vor, sie möge mir doch das Rad unter Umgehung aller Instanzen einfach informell ersetzen, und die Sache sei erledigt. Ein Betrag von 125 Euro für das einige Monate zuvor fürs Doppelte erstandene Gefährt schien mir fair. Ihr auch – wobei sie wahrscheinlich zu allem Ja und Amen gesagt hätte, in ihrem Zustand.


Abends klingelte das Telefon. Sie war dran; ob wir nachverhandeln könnten. Im Hintergrund war die Stimme ihres Mannes zu hören, der Anweisungen und Gesprächstaktik soufflierte. Ich war zu verblüfft und zugleich amüsiert, um dem aufsteigenden Ärger Raum zu geben. So ließ ich mich um 25 Euro runterhandeln.


Irgendwann später wurde mir klar, dass ich den Radweg in die falsche Richtung befahren hatte. Aber sie hätte wirklich auch mal gucken können.

Das Foto zeigt übrigens, wo man im Bedarfsfall gut ein neues gebrauchtes Rad beschaffen könnte. Ist aber leider Amsterdam.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Touch me in the Morning“ von MFSB, „Be thankful for what you've got“ von William Devaughn und „Lichterloh“ vom Kammerflimmer Kollektiv.


21 November 2005

Die Trickbetrüger

Heute in der Tagesschau interviewten sie einen Experten zum Thema Computerviren, und wie hieß der Mann? Gernot Hacker. Das Leben schreibt doch die schönsten Geschichten.

Zum Beispiel auch die von einem Trickbetrug, der gestern am Hauptbahnhof stattfand. Zwei Männer zeigten einem Passanten schwarz eingefärbte Euroscheine und führten aus, nur mit Hilfe einer speziellen Tinktur plus einem Bündel sauberen Geldes seien die zu reinigen und somit zu retten. Es ist bewundernswert, dass die Ganoven bei diesem bescheuerten Vortrag nicht selbst ins Prusten kamen, aber der so Angesprochene fand die Story plausibel und übergab ihnen laut Polizei 60.000 Euro. Die er seither vermisst.


Mein Freund J. kennt einen, der mal auf einen deutlich simpler gestrickten Trick reinfiel. Der Betreffende zog sich gerade Geld am Haspa-Automaten in der Wohlwillstraße, als ein irgendwie ostasiatisch anmutender Mensch starren Blicks herantrat und ihn mit sonorer Stimme derart hypnotisch bemurmelte, dass der darob willenlos gewordene Geldabheber seine frisch gezogenen Scheine wortlos übergab - und auf Geheiß des Fremden gar für üppigen Nachschub sorgte.


Natürlich fasst man sich da an den Kopf. Wer fällt bloß auf so was rein? Andererseits gibt es ja auch Leute, die an Astrologie glauben. Oder an Homöopathie. Der Murmler jedenfalls konnte an jenem Tag gleich mehrere freiwillige Spender von seiner Bedürftigkeit überzeugen und verduftete am Ende mit einigen tausend Euro. Bleibt die Frage, ob so etwas überhaupt justiziabel ist. Bedroht hat der Mann seine Opfer ja nicht. Nur sonor bemurmelt.


Auch der Herr auf dem Foto scheint nach unserer Börse zu greifen, doch es ist nur Schiller, dem wir heute Abend neben dem Cinemaxx-Kino begegneten.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Deep blue day“ von Brian Eno, „Sunday morning“ von James und „Kansas City“ von Jimmy Sturr & His Orchestra mit Delbert McClinton.


20 November 2005

Der Friseur

Am U-Bahnhof Feldstraße gibt es den „U-Bahn-Friseur“. Er frisiert trotz seines Namens Menschen und keine Waggons. Einen Termin braucht man dort nicht, sondern stiefelt einfach rein, und wenn gerade Kunden behandelt werden, wartet man halt ein Viertelstündchen und liest den vorvorletzten Stern. Meistens aber sind Chef und Gehilfin allein im Laden, also kommt man gleich dran.

Ich bin genetisch bedingt sehr haararm und daher ein klasse Kunde, wie ich finde. Kriterium: Bitte einmal alles auf monotone zwei Millimeter, rundum und ausnahmslos. Zehn Minuten später bin ich durch, Chef sagt: „So, hätten wir’s mal wieder“, ich zahle einen Zehner, gebe einen Euro Trinkgeld, und das war's.

Neulich schor mich ausnahmsweise seine Gehilfin. Als sie fertig war, kam Chef extra aus dem Nebenraum, wo er pausierte, um es zu sagen: „So, hätten wir’s mal wieder“. Kleine Rituale des Alltags.


Doch die sind jetzt passé. Denn Kollege Kramer hat mich überredet, einen Clipper zu kaufen. Bei meiner Frisur, meint er, der selbst diese Frisur hat, könnte ich das schließlich auch selber. Und er hat Recht. Das Gerät wird sich nach sechsmal Scheren amortisiert haben. Ich muss mir nur noch angewöhnen, danach „So, hätten wir’s mal wieder“ zu murmeln.

Nicht weit entfernt vom „U-Bahn-Friseur“ liegt übrigens die Loungebar Mandalay, wo ich interessante Farb- und Formenspiele an Decken und Ecken ausgemacht habe. Voilà.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „I wish I would I would know how it feels to be free“ von John Fahey, „Somewhere in England in 1915“ von Al Stewart und „The ocean“ von Richard Hawley.


19 November 2005

Die Razzia

Vorgestern Abend gab es auf St. Pauli die angeblich größte Polizeiaktion aller Zeiten. Mit fast 700 Mann nahmen die Einsatzkräfte eine Zuhälterbande hoch. Der Boss wurde nur wenige Meter von uns entfernt verhaftet, im East-Hotel.

Aber das Dickste: Wir haben nichts davon mitgekriegt. Keine Sirene, keine Kommandos brüllenden Testosteronbomben, nicht mal quietschende Reifen. Irgendwie enttäuschend, diese Lautlosigkeit bei allem Organisationsaufwand. Im Tatort läuft das immer anders. Wir wissen jedenfalls alles nur aus der Zeitung.


Es ging übrigens nicht um Prostitution an sich. Die ist schließlich erlaubt hier im Viertel; unsere Polizeistation ist geografisch gesehen sogar eine Art Glucke für die Bordsteinschwalben. Groß und klinkerstolz steht sie da an der Davidstraße und schaut nachsichtig lächelnd dem brünstigen Treiben zu.

Doch wenn die eine Ludenbande der anderen aus Konkurrenzneid den Laden zerhackt und dabei gegnerische Ganoven absticht, dann versteht die Bullerei keinen Spaß mehr, oh nein. Dann setzen sich 700 Mann in Bewegung.
Zum Glück vorm Wochenende, so wurde der Betrieb nicht gestört.

Die gerade sich entwickelnde Hafencity ist von derlei Unbill übrigens noch gänzlich unbetroffen – was zugegebenermaßen ein recht holpriger Übergang ist, aber ich wollte halt gern dieses Foto unterbringen.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „So long“ von Sophie Zelmani, „Femme fatale“ von Gabor Szabo und „Frozen“ von Nils Petter Molvaer.


18 November 2005

Die vom Stern

Ich bin eine Orientierungskatastrophe, doch nehme ich dies möglichst stoisch hin. Regelmäßig verlaufe ich mich. Allerdings bleibt mein Selbstbewusstsein davon ungetrübt. Will sagen: Ich glaube meist, den Weg zu kennen, und vertrete diese Auffassung in Gesellschaft auch recht starrsinnig. Also sorge ich hie und da sogar für kollektives Verirren.  

Manchmal hat das aber durchaus positive Folgen – heute Abend etwa. Ich war mit dem Franken unterwegs zu einer Lesung, die im Magazin-Kino in Alsterdorf stattfinden sollte. Vom U-Bahnhof Lattenkamp aus sind es noch mal zehn Fußminuten – zumindest, wenn man die richtige Richtung einschlägt. Taten wir aber nicht, weil ich uns entschlossenen Schritts ins Nirgendwo führte. 

Wir mussten also irgendwann fragen und gerieten an einer unbelebten Schnellstraßenkreuzung an eine fidele Dame jenseits der 70, die uns wortreich den Weg zum Kino nach Fiefstücken schilderte. Binnen kurzem erfuhren wir zudem ihr halbes Leben, zum Beispiel, dass sie einst „die linke und die rechte Hand“ Henri Nannens gewesen sei, des legendären Stern-Chefs; ihr Name: Christiane Hundt. „Ich habe die Hitler-Tagebücher verbrochen!“, verriet sie augenzwinkernd Sensationelles, relativierte dies aber schließlich ein wenig zuungunsten des Reporters Gerd Heidemann, was sich ja auch mit der gerichtlich festgestellten historischen Wahrheit deckt.  

Die Dame war derart kregel und offenbar für heute Abend auch ungebunden, dass sie Hänsel und Gretel kurzerhand unter ihre Fittiche nahm und zielgenau zum Magazin-Kino leitete, wo sie – wie sie sagte – seit rund 65 Jahren nicht mehr eingekehrt sei. Erfreut von dieser interessanten Gesellschaft luden wir sie kurzerhand ein, uns zur Lesung zu begleiten. Ich schmuggelte sie auf Gästeliste rein, der Franke spendierte ihr einen Orangensaft. Und es wurde ein köstlicher Abend! 

Zwar kam die Gute unablässig vom Hölzchen aufs Stöckchen, doch wir schafften es zumindest temporär, sie mit geschickter Rhetorik zu den interessanten Geschichten zurückbugsieren. Heidemann zum Beispiel, der den Hitler-Coup damals gemeinsam mit dem Fälscher Konrad Kujau ausgeheckt hatte (vgl. auch „Schtonk!“), war damals, wie sie mit damenhafter hanseatischer Dezenz andeutete, ziemlich scharf auf sie, und sie ließ sich von ihm nach Hause einladen – allerdings nur aus kalter Berechnung: Sie spekulierte auf eine hochkarätige Mahlzeit. Indes gingen weder sein noch ihr Wunsch in Erfüllung. 

Dafür lernte sie Heidemanns Archivzimmer kennen: ein, wie sie erzählte, penibel sauberer Raum, der bis unter die Decke voll war mit Leitz-Ordnern übers Dritte Reich. Und stolz soll er sie über die Herkunft des Ringes an seiner linken Hand aufgeklärt haben – es war der von Heinrich Himmler. (Das mag einer der Gründe gewesen sein, warum er sie nicht rumgekriegt hat.)  

Die Veranstaltung selbst – Gerhard Henschel las gemeinsam mit Fanny Müller, Günter Amendt und Frank Schulz aus dem Roman „Der dreizehnte Beatle“ – war übrigens auch ganz okay. Und sogar heimgefunden haben wir wieder, sogar relativ direkt.  

Update v. Dez. 2005: Über ihren Dankesbrief, der einige Zeit danach eintraf, habe ich mich sehr gefreut.




Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Sympathetic noose“ von Black Rebel Motorcycle Club, „Sorrel“ von Wishbone Ash und „Sparrow falls“ von Woven Hand.

17 November 2005

Die Elenden

Das abgebildete Pornokino schräg gegenüber von unserem Haus gibt es noch nicht lange. Dafür aber das direkt angrenzende Hotel Hanseat, ein Etablissement, das sich keine Mühe gibt, seine Heruntergekommenheit zu verhehlen.

Dort hausen – zunächst im fensterlosen Keller, nach einer Polizeiaktion aber jetzt im ersten Stock – eigens importierte Missgestalten aus Osteuropa, die täglich von Aufpassern zum Betteln auf Jungfernstieg und Mönckebergstraße geschickt werden.


Wir begegnen den Elenden häufig. Vor allem einem winzigen Bündel Mann ohne Beine. Laut Spiegel heißt er Dancio. Im 19. Jahrhundert hätte er im Horrorkabinett eines Jahrmarktes Besuchern den Atem geraubt, heute – tempora passata – wird er auf einer Art Skateboard von der Seilerstraße aus durch die Stadt geschleift, vor C&A oder Armani abgestellt und nach einem langen Betteltag wieder heimgeholt in die Seilerstraße.
Und wenn Dancio dann von seinem Wachhund ins Hanseat getragen wird – in den ersten Stock, nicht in den Keller –, dann schimmert seine Haut bläulich im kalten Licht des Pornokinos.

Ich frage mich, warum die Leuchtreklame nicht im kieztypischen Rot erstrahlt. Geht man wirklich, wenn man scharf ist, in einen blauen Laden? Die Betreiber sollten die Werbeagentur wechseln.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Albion“ von Babyshambles, „Hard to come back“ von Madrugada und „Rollercoaster“ von Red House Painters.


16 November 2005

Das grüne Leuchten

Okay, okay, meine Freunde kennen die Geschichte schon, aber die Welt noch nicht. Deshalb gibt es sie jetzt hier:

Eines Freitagsnachmittags kaufte ich im größten Supermarkt St. Paulis drei Doppelmatjes für ein Wochenendmahl und legte sie verpackt in den Kühlschrank. Am Sonntag holte ich sie heraus und drapierte sie auf einem Teller im Wohnzimmer, wo wir gemeinhin das Abendmahl zu uns nehmen. Nur weil es bereits dämmerte und ich auf Beleuchtung verzichtet hatte, fiel mir allerdings etwas sehr Merkwürdiges auf am Matjes: Er leuchtete.


Etwas irritiert verdunkelte ich das Zimmer ganz. Unglaublich: Der Matjes leuchtete. Und zwar in einem fahlen Grünton. Im Zimmer herrschte sogar matjesbedingt ein gespenstisches Schummerlicht; der Fisch spiegelte sich auf der Mattscheibe und in den Wohnzimmerfenstern.

Was in Neptuns Namen war das? Allmählich verblassendes Phosphor schied als Ursache aus, denn das Strahlen blieb unverändert. Was also konnte der Grund sein – Radioaktivität, Tschernobyl-Spätfolgen … ?
Wir waren beunruhigt. Und aßen natürlich den Fisch nicht, sondern verpackten ihn luftdicht, deponierten ihn im Kühlschrank und riefen am Montag das Gesundheitsamt an, um dem Geheimnis des grünen Leuchtens auf den Grund zu gehen.

Der Beamte wusste zunächst nicht weiter („Das habe ich ja noch nie gehört!"), versprach aber, sich bei einem Lebensmittelchemiker zu erkundigen. Der hatte dann die Erklärung: Für das Leuchten, sagte er, seien ganz klar Bakterien verantwortlich, die sich – statt unserer – am Matjes gütlich getan und vor lauter Essgenuss zu leuchten begonnen
hätten; das sei so ihre Art. Der Fisch, fuhr der Experte fort, sei wohl nicht mehr ganz frisch gewesen, als das Supercenter ihn mir verkauft hatte. Wäre er an unserer Stelle, würde er künftig auf Meergetier aus dieser Quelle dankend verzichten. Und zwar auf immer und ewig.

Diesem Ratschlag konnten wir uns nicht verschließen. Allerdings schien es mir sehr wichtig, dem Laden den ganzen Vorfall zu schildern. Mein entsprechendes Schreiben endete wie folgt: „Es reicht eben nicht, die ganze Belegschaft auf freundliches Lächeln zu trimmen. Die Ware sollte nebenbei auch noch ohne Gefahr für Leib und Leben genießbar sein. Wir zahlen übrigens gerne ein paar Groschen mehr, wenn das gewährleistet ist.“


Der Brief, gerichtet an die verursachende Filiale, blieb indes ohne jede Reaktion, wochenlang. Das verbitterte mich. Also machte ich die Bundeszentrale der Supermarktkette ausfindig und beklagte mich in recht deutlichen Worten über die Ignoranz der Dependance auf St. Pauli, nicht ohne meinen ursprünglichen Brief noch einmal zur Gänze einzufügen. Und siehe da: Nur zwei Tage später schellte das Telefon. Der hiesige Filialleiter war dran. Er war zuckersüß. Ich hätte da einen Brief geschrieben über einen leuchtenden Matjes, das Schreiben sei leider am Infostand steckengeblieben und verspätet weitergeleitet worden, und das sei natürlich alles ganz furchtbar, und ob ich nicht mal vorbeikommen wolle, um den Fall zu bereden und eine entsprechende Entschädigung in Empfang zu nehmen, die dazu dienen könnte, mich dem Supercenter weiterhin als Kunden zu erhalten.

Nun, warum nicht. Der Filialleiter empfing mich seufzend, beklagte sein Los. Die Kunden, hub er an, seien auch nicht immer Engel. Abend für Abend fingerten er und seine Untergebenen Wiener Schnitzel hinter Heizungen hervor und Emmentaler aus dem Chipsregal. Schön und gut, wandte ich ein, aber der Matjes …? Ja, das sei eine ganz dumme Sache, seufzte er, und sie würden natürlich den Lieferanten wechseln, auf jeden Fall.
Am Ende, nachdem er mir ausgiebig sein Herz ausgeschüttet hatte, bot er mir zwecks Reparation eine Flasche Schaumwein an, und ich entschied mich generös für einen recht passablen Rieslingsekt.

Kurz danach löste das Supercenter seine Frischfischtheke komplett auf. Seitdem gibt es dort Maritimes nur noch vakuumverpackt im Kühlregal. Dennoch beziehen wir unsere Matjes inzwischen aus anderen Quellen.

Und immer, wenn ich zu Hause
einen auspacke, lösche ich zur Sicherheit das Licht und starre angestrengt ins Dunkel. Doch nie mehr habe ich es gesehen seither, das grüne Leuchten.

Das Foto zeigt keinen Fisch, sondern unseren sardischen Glasdelfin. Ich habe ihn trotzdem in grünes Licht getunkt.

Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Like a hurricane“ von Neil Young, „Papilla honeymoon“ von Naked Lunch und „Sinfonie Nr. 6 (Pastorale)“ von Ludwig van Beethoven.


15 November 2005

Der Zahnarztstuhl

Heute war wirklich Post im Briefkasten. Unfassbar.

Gestern beim Zahnarzt. Die Helferin trägt Mundschutz (weshalb ich nicht beurteilen kann, ob sie eventuell aussieht wie
Scarlet Johansson), sie führt mich ins Behandlungszimmer; der Doktor komme gleich.

An der Wand hängt ein geometrisch anmutendes Motiv mit Segelschiffen in Primärfarben, die Lüftung summt sonor, ich liege im Behandlungsstuhl ohne Außenreize, schließe die Augen und merke, dass man dieser Art hermetischer Ruhe viel zu selten gütig zulächeln kann im brodelnden Hamburg.

Ich schrecke hoch, als der Zahnarzt reinkommt, gestehe ihm, beinahe weggedämmert zu sein im Kokon dieses Zimmers, er lächelt und sagt: „Schön, dass Sie so entspannt sind.“ Na, das hat sich dann geändert.

Zwischen Reeperbahn und Spielbudenplatz klafft zurzeit eine riesige Erdwunde, und als ich heute Abend aus dem Büro kam, nahm ich die Schneise fotografisch ins Visier, mit dem Vollmond als stoischem Chefbeleuchter.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „4th time around“ von Bob Dylan, „Grandiose“ von The Church und „I fought the lawn“ von The Ziggens.


14 November 2005

Die Hotline

Hatte heute ein hochmerkwürdiges Erlebnis mit einer Hotline. Seit Tagen erhalten wir keine Briefe mehr zugestellt, als wären wir aus der Welt. Die beunruhigend naheliegende Erklärung – von uns will eben keiner mehr was – wurde durch die Tatsache widerlegt, dass auch die montägliche Lieferung des SPIEGEL ausblieb.

Und jetzt zum hochmerkwürdigen Erlebnis. Ich rufe also beim Kundenservice der Deutschen Post an, nach zwei Sekunden nimmt ein sich namentlich vorstellender Herr mit leicht bayerischem Zungenschlag ab, ich schildere ihm mein Anliegen, er nimmt alles auf inklusive zweier Telefonnummern, unter denen er mich bei eventuell nötigen Rückfragen erreichen kann, und verspricht sodann der zuständigen Poststelle in Hamburg Dampf zu machen, aber richtig. Dann verabschiedet er sich herzlich.


Ich bleibe baff zurück und starre den Apparat an. War das wirklich eine Hotline? Hochmerkwürdig. Wo ist der Haken? War das ein kurzer Switch in ein Paralleluniversum, in dem Hotlines eine vollkommen andere Funktion haben als in unserer Welt, nämlich ANRUFERN WEITERZUHELFEN?


Sollte morgen wieder Post im Kasten sein, das wäre gruselig. Ich würde mich fühlen wie in der Twilight Zone.

Derweil läuft das Vergnügungsfestival namens Dom auf dem Heiliggeistfeld weiter, als sei die Welt noch die gleiche. Das Riesenrad auf dem Foto spiegelt sich im Fenster des Sushi-Restaurants am Millerntorplatz.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „The sicilian clan“ von Friends Of Dean Martinez, „Think of all“ von Bill Janovitz und „[If there's] no hope for us“ von Arab Strap.


13 November 2005

Die skurrilen Ortsnamen

Den Hamburgern kommt das wahrscheinlich alles total normal vor, aber ein Zugereister muss hie und da immer noch schmunzeln über hiesige Ortsbezeichnungen.

Da gibt es zum Beispiel die kulinarisch konnotierten Fleischgaffel oder Büchsenschinken, wir haben das grinsende Witzhave, ein recht überheblich klingendes Königreich, das brutale Schäferdresch, ein derbes Poppenbüttel oder das an einen Putzfrauenjob gemahnende Eichwischen.


Überhaupt: Ortsbezeichnungen. Die komplette menschliche Anatomie ist mithilfe deutscher Dorf- und Städtenamen bereisbar. Hier der Beweis (alles reale Namen!), von oben nach unten, von Nord nach Süd:

- Haar - Biedenkopf - Augsburg - Nasingen - Lippstadt - Dortmund - Rochzahn - Kinnbackenhagen - Barthmühle - Kehlheim - Halstenbek - Armstedt - Katzenelnbogen - Handewitt - Wülfingerode - Rückenhain - Brustorf - Busenhausen - Holungen - Rippersroda - Großbauchlitz - Kißleberfeld - Gallenthin - Nierstein - Dormagen - Groß Schwansee - Willihof - Eichelhardt - Balleierhof - Hodenhagen - Darmstadt - Hinternah - Pforzheim - Schenkelberg - Vorbein - Kniepow - Wadendorf - Fußstall - Zehna - Sohlen.

Da ich nichts davon fotografisch dokumentiert vorrätig habe, gibt es heute ein Bild, das wenigstens auch einen gewissen Skurrilitätsgehalt hat – nämlich das Fenster unserer Nachbarn im Erdgeschoss. Erinnert mich irgendwie an Todenbüttel. Oder das nette Dörfchen Todenmann bei Rinteln.

Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Carry the zero“ von Built To Spill, „Catch the breeze“ von Slowdive und „Caravan“ von Thin White Rope.


12 November 2005

Die Bettlerin

An der Station Reeperbahn steigt eine recht gepflegt wirkende Bettlerin mittleren Alters zu. In der linken Hand hält sie einen Plastikbecher, die rechte führt eine Krücke, mit der sie offenbar ihrem Anliegen Nachdruck verleihen und die allgemeine Spendenbereitschaft im Waggon heben will. Von einer großen Beeinträchtigung ihrer Mobilität ist indes nichts zu bemerken.

Sie geht
zügig von Sitz zu Sitz, murmelt ihre Bitte, erntet Kopfschütteln, geht weiter. Auch ich habe mich innerlich schon darauf eingestellt, ihr mit mimischen Mitteln unmissverständlich zu verdeutlichen, dass bei mir heute nichts zu holen ist.

Doch die Frau geht einfach blicklos an mir vorbei.
Ich bin verblüfft, ja geradezu düpiert. Alle im Wagen hat sie gefragt, nur mich nicht.

Mein interner Stimmungsseismograf misst sogar eine leicht aufschäumende Empörung. Bin ich etwa nicht anbettelbar? Und wenn nicht, warum nicht? Habe ich zu früh die Bettlerabwehrmiene aufgesetzt? Liegt es an meinen Kopfhörern, die der Frau von vorneherein mein momentanes hermetisches Monadentum signalisieren? (Aber auch andere im Wagen sind abgestöpselt und ihr nicht entgangen.) Oder sehe ich selber pleite aus? Hm, meine Lands-End-Jacke und die schwarzen Clarks-Lederslipper senden eigentlich eher gegenteilige Signale aus.


Warum also? Das beschäftigt mich den ganzen Nachmittag. Noch immer irritiert, befrage ich zu Hause Ms. Columbo. Sie bestätigt mir jedoch, mich in einer vergleichbaren Situation ggflls. sofort und bedingungslos angebettelt zu haben.
Irgendwie beruhigend.

Das Foto zeigt eine Wandlampe im El Dorado, wo der gestrige Tag ausklang.

Große Musik, die heute durch den iPod floss: „6 feet snow“ von Souled American, „Dakota“ von den Cowboy Junkies und „Anywhere I lay my head“ von Tom Waits.


11 November 2005

Die Lautstarken

Im 37er Bus. Sitze neben einem hageren älteren Herrn offenbar kleinasiatischer Herkunft, der mir mit seinem grobleinenen Anzug und einer dem Modegeschmack der 50er Jahre schmeichelnden Mütze recht wenig urban wirkt. Indes klingelt es plötzlich ganz modern in seiner unmittelbaren Nähe, ja geradezu aus ihm heraus.

Er zückt fix ein grellrotes Teenie-Handy von Nokia, in das er nach einem kurzen Moment der Vergewisserung, wer denn da am anderen Ende ein Gesprächsbedürnis hat, hineinzusprechen beginnt – genau gesagt: Er BRÜLLT.


Der gute Mann scheint mit den technischen Fähigkeiten eines Mobiltelefons nicht zur Gänze vertraut zu sein. Denn ich – und wohl auch der Rest der Fahrgäste, wie man an den erschreckt sich drehenden Köpfen ablesen kann – habe das Gefühl, er will die Distanz zum Anrufer komplett mit der physischen Kraft seiner Lungen und Stimmbänder überbrücken. Und, meine Damen und Herren, es ist kein Ortsgespräch.


Eine unbekümmert lautstarke Präsenz in der Öffentlichkeit scheint mir unter Mitbürgern nichtdeutscher Genese viel verbreiteter zu sein als – sagen wir – unter Ur-Övelgönnern oder den Fischern aus der Flens-Werbung. Zum Beispiel ein Nachbar von uns: Er ist sichtbar afrikanischer Herkunft und neigt dazu, frühmorgens gegen 5 bei grundsätzlich offenem Fenster hochinteressante Telefonate mit Daressalam o. ä. zu führen – mit einer Stimme, für die Screamin' Jay Hawkins seine Mutter verkauft hätte.


Seine selbst durch unser isolierverglastes Schlafzimmerfenster praktisch ungefiltert dringende Suada scheint stets aus Beschimpfungen, Schmähreden und Wutausbrüchen zu bestehen und wird explosiv hervorgestoßen mit dem souveränen Selbstvertrauen desjenigen, der sich klar im Recht wähnt. Vielleicht ist das aber auch der ganz normale Tonfall, in dem er gewöhnlich zum Geburtstag gratuliert oder Bankverbindungen durchgibt.


Wie auch immer: Ganz St. Pauli erfährt davon, morgens um 5. Sonst ist das aber eine sehr ruhige Familie.


Die heute erwähnten Mitbürger habe ich (natürlich) nicht fotografiert. Dafür aber eine renovierungsbedürftige Fassade in der Beckers Passage. Ein paar Häuser weiter werde ich gleich Andreas abholen, um mit ihm im El Dorado noch einen zu heben. Cheerio.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Lust for life“ von Iggy Pop, „Outsiders“ von Franz Ferdinand und „Helden/Heroes“ von Six By Seven.


10 November 2005

Der Lindenberg

Interviewtermin im Hotel Atlantic mit einer wunderbaren Singer/Songwriterin. Plötzlich schreitet eine Sonnenbrille mit Hut vorbei und platziert sich mogulartig an der Bar. Natürlich ist es Udo Lindenberg; er bewohnt hier seit Jahren eine eigene Suite und suhlt sich in der Rundumversorgung eines Luxushotels.

Schwer zu sagen, was ihn diese Marotte pro Monat kostet. Vielleicht 10 000 Euro? Das wären im Jahr 120 000, in zehn Jahren 1,2 Millionen. Egal, Peanuts für Udo. Zumal er dazu neigt, an dieser Bar gezielt Likör auf Bierdeckel, Rechnungen und Atlantic-Notizblocks zu verschütten und die Pfütze sodann gedankenverloren mit wurstigen Fingern zu verschmieren.

Wenn alles trocken ist, nennt er das Ganze „Likörell“, stellt es aus und verkauft es, was ihm eine weitere Monatsmiete im Atlantic einbringt. Wie er allerdings die Feinjustierung der Farbästhetik hinbekommt, ohne die Sonnenbrille abzusetzen, ist mir schleierhaft.


Draußen senkt sich blau die Dämmerung über Alster, Enten und Bojen. Hinter den Totenschädelaugen einer Skulptur sieht das Atlantic gelassen der Novembernacht entgegen. An der Bar ist Udo wahrscheinlich schon beim zweiten Likörell.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „King of the mountain“ von Kate Bush, „Tomorrow never knows“ von Trouble und „Dream machine“ von Daniel Ash.


09 November 2005

Die Brötchenfrage

Ob Beziehungen funktionieren, hängt nach allgemeiner Auffassung wesentlich davon ab, wer welche Brötchenhälfte mag. Brötchenhälftenvorlieben gelten als mindestens so wichtig wie Wesenszüge, Kinogeschmack oder das Bevorzugen bestimmter Sexualpraktiken.

Neueste Erkenntnisse legen jedoch nahe, daß die Brötchentheorie überdacht werden muß. Denn es ist, wie die Feldforschung ergab, objektiv und in jedem Fall ein Unglück, die obere Hälfte zu erwischen, selbst wenn die Brötchen von Rönnfeld kommen.

Das liegt an der Statik, die mit jedem Bissen wechselt. Eine frisch beschmierte obere Brötchenhälfte ist in der Regel fein ausbalanciert. Zwar reagiert sie seismografisch auf grobes Abstellen von Kaffeetassen oder Tritte ans Tischbein. Sie schaukelt wie trunken, pendelt sich aber wieder ein – eine wunderbare Erfindung der Evolution.
Das Problem beginnt mit dem ersten Bissen. Plötzlich ist die empfindliche Balance gestört, die obere Hälfte taumelt, sie kippt, sie fällt schließlich ächzend auf die Seite. Und der Honig fließt runter. Beim Versuch, das Brötchen wieder aufzurichten, besudelt man sich in der Regel die Hand und klebt den ganzen Tag.

Wer oft obere Hälften erwischt, entwickelt Problemlösungsfantasien. Beispielsweise versucht er, den zweiten Bissen genau gegenüber anzusetzen. Die Brötchenhälfte entwickelt aber ebenso ausgefeilte Umkippfantasien. Weitere, mit Hilfe eines Winkelmessers sehr zielgenaue Bisse fruchten nichts. Gegenüber steht derweil die ganze Zeit die untere Brötchenhälfte felsenfest auf dem Brett, beobachtet die Szenerie und feixt bis zum letzten Haps.


Ich kenne einen Bäcker, der sagt, es sei technisch kein Problem, Brötchen mit zwei unteren Hälften zu backen. Der Mann könnte Beziehungen retten.


Das heutige Foto hat mit Backwaren überhaupt nichts zu tun, sondern eher mit dem Eintrag von gestern. Die Fassadenbeleuchtung des Ibis-Hotels am Ende der Reeperbahn sieht nämlich irgendwie alienesk aus. Oder dämonisch? Heute jedenfalls musste sie sich fotografieren lassen. Ich hoffe, ich habe ihr damit nicht die Seele geraubt.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Wicked game“ von Chris Isaak, „Dining“ von Greg Murray und „Common people“ von William Shatner.

08 November 2005

Die Außerirdischen

Seit ich eine Flatrate habe, stelle ich ungenutzte Online-Zeit und Rechnerleistung dem amerikanischen SETI-Institut zur Verfügung. SETI heißt „Search For Extraterrestial Intelligence“, doch dahinter verbirgt sich kein spinnerter Ufo-Verein, sondern eine Forschungseinrichtung, die Radiowellen aus dem All analysiert, um festzustellen, ob irgendeine davon künstlichen Ursprungs sein könnte. Wegen der für Raumschiffe unüberbrückbaren Distanzen im All wäre das die einzige Chance, überhaupt zu erfahren, ob wir wirklich ein Dasein in kosmischer Einsamkeit fristen oder nicht.

Den Unterstützern schickt SETI übers Internet Datenpäckchen, die ein auf dem heimischen Rechner installiertes Programm
automatisch checkt und wieder zurückschickt. Und jeder von uns SETIanern hofft natürlich, er möge derjenige sein, der als erster E.T.s Stimme aus dem chaotischen Chor des kosmischen „Schalls“ herausfiltert.

Vielleicht die einzige Chance zur Unsterblichkeit, wo es schon für Nobel- oder Pulitzerpreis nicht reicht … Bisher hat es bei mir aber noch nicht „Bingo!“ gemacht.


Dafür habe ich vor einiger Zeit am Schulterblatt mal einen Scheinwerfer fotografiert, der die tiefhängenden Wolken dergestalt anstrahlte, dass es aussah, als beamte sich ein Klingone was Nettes von der Erde hoch. Das Foto war meines Erachtens als Ufo-Fake gar nicht soooo unüberzeugend. Also habe ich es einer dieser durchgeknallten Zeitschriften zugespielt, die an grüne Männchen, Untertassen und Roswell glauben. Aber wahrscheinlich kriegen die von Schlaumeiern wie mir jeden Tag so was zugemailt; jedenfalls gab's keine Reaktion.


Das Bild ist trotzdem ganz hübsch, wie ich finde.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Great waves“ von Dirty Three & Cat Power, „Roch'n'Roll“ von The Sounds und „Contact myself“ von Katja Werker.

07 November 2005

Das ungleiche Liftduell

Weil es unschön nieselt, bin ich heute mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs. Abends um 18:30 Uhr an der S1 in Altona folgende Szenerie: Ich bin gerade in die Bahn gestiegen und schaue nach des Tages Last mit müden Augen raus, als ich einen alten Mann im Rollstuhl auf den Aufzug zufahren sehe. In letzter Sekunde aber flitzt ein etwa 30-jähriger Kerl an ihm vorbei und schiebt sein Fahrrad in den Lift.

Der Rollstuhlfahrer ist mir bekannt. Man trifft ihn öfter in Ottensen und Altona. Er ist stets ausstaffiert mit einer Helmut-Schmidt-Gedächtnismütze und einer dickglasigen Hornbrille. Ich weiß, dass er nicht nur nicht laufen, sondern auch nicht artikuliert sprechen kann. An einem Imbisstand traf ich ihn mal in Begleitung einer Betreuerin, und seine explosiv ausgestoßenen Lautkaskaden wusste sie semantisch zu deuten, so dass er zu seiner offenbar gewünschten Currywurst mit Spezialausstattung kam.


Jetzt und hier aber, nachdem er so schamlos ausgebootet worden ist, gerät er in äußerste Rage. Er beschimpft lautstark stammelnd den Radfahrer, der ihm den Platz im Aufzug genommen hat, er schüttelt die Faust und brüllt und zetert in seiner wilden Fantasiesprache, doch der Mann im Lift wendet ihm den Rücken zu und tut, als sei er allein auf der Welt.


Als sich die Türen meiner Bahn schließen, sehe ich, wie der Rolli wutrot kehrtmacht, zum Stationshäuschen düst und die beiden HVV-Männer mit Schreien und Gesten auf das empörende Ereignis aufmerksam zu machen versucht. Doch die beiden haben schon mehr gesehen, als sich der alte Mann eralpträumen kann, viel mehr. Und sie schauen ihn mit Augen an, die müde sind von des Tages Last.


Meine Bahn fährt los und in den Tunnel ein, ich verliere den hilflos Tobenden aus dem Blick – und ärgere mich natürlich (mal wieder), nicht spontan ausgestiegen zu sein, um dem Liftdieb die Wut des Rollstuhlfahers in verständliches Deutsch zu übersetzen. Ich hätte auch gerne gewusst, wie sich so einer jetzt fühlt. Als Sieger? Oder wie ein Arsch? Jedenfalls kam er insgesamt rund zwei Minuten früher dort an, wo er hinwollte. Und der alte Mann zwei Minuten später. Doch das Ganze hat für beider Leben mehr zu bedeuten, viel mehr.


Heute kam die Queen Mary 2 nach Hamburg zurück, um sich für einen zweistelligen Millionenbetrag im Trockendock aufhübschen zu lassen. Mein Foto zeigt sie am Kreuzfahrtterminal in der Hafencity.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Sail beyond doubt“ von Sugarplum Fairy, „Stairs“ von Weeping Willows und „Blow him back into my arms“ von Moneybrother.

06 November 2005

Die bösen Überraschungen

An der U-Bahnstation Rödingsmarkt hat es eine Taube erwischt. Sie muss auf dem Gleis gesessen und den herannahenden Zug mit taubentypischer Gleichmut betrachtet haben. Doch das übliche Wegfliegen in letzter Nanosekunde klappte diesmal nicht. Effekt: Den dummen Vogel hat's säuberlich zweitgeteilt. Auf dem Gleis selber waren komischerweise keine Spuren der Katastrophe zu sehen, doch links und rechts davon gab es eine große Schweinerei.

Uns erinnerte das an eine
„Seinfeld“-Folge. George Costanza hält wohlgemut mit dem Wagen auf Tauben zu, die mit taubentypischer Gleichmut mitten auf der Straße sitzen, und als es plötzlich Federn auf die Windschutzscheibe schneit, ruft er entsetzt und empört: „Ich dachte, wir hätten einen Deal!“ (In Ermangelung eines Tote-Taube-Fotos greife ich übrigens heute auf eine festgefrorene Möwe zurück, die ich letzten Winter in Gesellschaft eines Einkaufswagens im Parksee entdeckte.)

Eine böse Überraschung muss auch ein alter Freund von mir verdauen. Seine neue (und sehr junge) Freundin hat ihm nach einigen Monaten Karenzzeit zunächst gestanden, dass sie vor einer Webcam strippt und diese Show im Internet abonnierbar ist; allerdings war das noch nicht die böse Überraschung, denn das fand mein bekannt toleranter Freund eher anregend (immerhin kriegt er regelmäßig das, wovon die Abonnenten nur feucht träumen). Doch dass sie nach einer weiteren Karenzzeit damit herausrückte, sich ihr Studium nebenbei auch noch als Domina zu finanzieren, die ihre Kunden zu Hause besucht – das hat er nicht mehr locker weggesteckt.

Jetzt ist er wieder solo und hält Ausschau nach etwas Soliderem und nicht mehr ganz so Jungem. Tipps leite ich gerne weiter.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Pony ride on“ von Katja Werker, „New World Order“ von Galliano und „Once“ von Laid Back.

05 November 2005

Die Würdelosen

Mein Eintrag „Die Bauwut“ hat eine kleine Diskussion darüber entfacht, wieviel Lärm und ekelerregendes Verhalten man als freiwilliger Bewohner St. Paulis ertragen können muss. Ich muss ehrlich gesagt zugeben: Auch ich goutiere es eher selten, wenn wildfremde Menschen mir unaufgefordert die Vielfalt ihrer Inhaltsstoffe präsentieren.

Einmal verließen wir das Haus und stießen unmittelbar davor auf einen Menschen, der sich zwischen zwei geparkten Wagen hingehockt hatte, um zu kacken.
Das wirft für mich die Frage auf, ob Armut und Obdachlosigkeit zwangsläufig mit dem vollkommenen Verlust von Würde und Selbstachtung einhergehen müssen. Wahrscheinlich kann ich das als Wohnungsbewohner und Nichtarmer letztlich nicht beurteilen – aber zurzeit denke ich: Nein, man müsste eigentlich auf einen Rest Würde bestehen wollen, unter allen Umständen.

Auch die Unverfrorenheit, mit der (nicht immer notwendigerweise hackedichte) Kiezbesucher ihr bestes Stück auspacken, um meinen Stadtteil mit endogenen Giftstoffen zu begießen, erstaunt mich immer wieder. Wir betraten neulich eine U3-Station und sahen, wie ein Mann ungeniert auf die Gleise schiffte. Was übrigens dank der Starkstromleitung zwischen den Schienen kein unbeträchtliches Risiko für seine Potenz darstellte. Aber hat er darüber nachgedacht? War er intellektuell überhaupt in der Lage, die Vor- und Nachteile seiner Handlungsweise zu reflektieren? Don't think so.

Unlängst war eine Fotografin in St. Pauli auf der Pirsch, um solche Anarchopinkler in flagranti abzulichten. Wie sie berichtet, war das vielen aber so was von schnuppe; manche reagierten anzüglich; und jene, die es störte, dass sie beim öffentlichen Schniedelschwingen verewigt wurden, konnte sie in der Regel mit dem als Schmeichelei empfundenen Satz besänftigen: „Ich steh auf so was.“


Sie hat die Fotos übrigens an der Großen Freiheit an ein seit Dekaden eingenässtes Haus plakatiert, dessen Fundament wohl inzwischen vowiegend aus Urinstein besteht.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Let's get crazy“ von Ric Ocasek, „In this home on ice“ von Clap Your Hands Say Yeah und „It's not the liqour I miss“ von Luke Doucet.

04 November 2005

Die Herzlosen

Woran man sich als zugezogener Hesse auch nach mehr als 10-jährigem Hamburg-Aufenthalt nicht recht gewöhnt, ist die rustikale Herzlosigkeit der Hanseaten. Heute stand in Ottensen ein älterer Herr an einem Bauzaun und stierte sinnierend in die Grube, als eine Dame ähnlichen Alters vorbeikam und zu ihm sagte: „Willst du Selbstmord begehen? Das ist nicht tief genug!“

Keine Ahnung, ob die beiden sich kannten. Doch selbst dann wäre eine leicht andere Nuancierung in der Ansprache nach meinem Geschmack probater gewesen. Grundsätzlich scheinen sich die Leute hier ziemlich egal zu sein. Jeder sieht, wie er voran kommt. Als Fahrgast in den U- und S-Bahnen stellt man sich tunlichst schon während der Fahrt an die Tür, denn der am Bahnsteig wartende Hanseat kennt nur eins: Rein in die Bahn – Frechheit, dass auch welche rauswollen.
Manchmal muss man regelrecht Schneisen schlagen in die dumpf und unwillig Reindrängenden.

Am schlimmsten wird es, wenn man versehentlich an der falschen Tür steht und plötzlich erkennt, dass man sich in Sekundenbruchteilen zur anderen Seite durchschlagen muss. Denn die hereinbrandende Lawine verfährt mit ausstiegswilligen Nachzüglern gewöhnlich nach der Methode: Steig doch an der nächsten Station aus. Phh.


Und damals, als die im
Start-Posting erwähnte Nachbarin aus dem vierten Stock neben uns aufs Pflaster klatschte, kam der Typ vom „Glöe International Grillimbiss" an der Ecke raus, beugte sich über den Haufen Fleisch und sagte, fast ein wenig vorwurfsvoll: „Die lebt ja noch.

Möglicherweise ist das hier nicht die ideale Stadt, um auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein. Anders gesagt: Gandhi hätte hier bestimmt einen Job gefunden, auch wenn er komische Klamotten trug.


Ich will damit aber nicht sagen, Hamburger hätten kein Herz. Die Maria Bar zum Beispiel hat eins.


PS: Übrigens neige ich seit einiger Zeit dazu, sehr unwillig in Bahnen reinzudrängen. Eine Handlungsweise, die ich auch im Angesicht von Bussen an mir feststelle.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Deep lake“ von Film School, „Viver“ von Sandboy und „Those winters“ von Jenny Wilson.

Die Bauwut

Oh, Mann, die Seilerstraße ist momentan eine einzige Lärmhölle. Überall hämmern sie und graben, schaufeln und baggern, Kräne pendeln wirr durch die Gegend. Ständig gellen die Flüche und Kommandos der Bautrupps durch die Straße, und sobald man ein Fenster kippt, hat man die ungebetenen Schallgäste im Wohnzimmer. Und dann sind da auch noch die Betonmischer-Lkws, die unter unserem Balkon herumstehen und stundenlang vor sich hin dieseln.

Letztes Jahr ging die Bauwut los mit blitzartig hochgezogenen Hotels. Sehr bunt und geometrisch lugten sie herab auf die Seilerstraße, doch inzwischen sind sie bereits wieder verdeckt, denn neben unserem Haus entsteht seit Monaten eine Wohnanlange namens „Condominium", die sich jeden Tag ein wenig höher schraubt und dies glaubt, stolz und lauthals kundtun zu müssen.


Als reichte das nicht, hat die Stadt gerade im Abstand von jeweils rund 30 Seilerstraßenmetern das Pflaster aufgerissen. Es ist eine einzige Slalomfahrt. Auch schräg gegenüber von
Waschmaschinenhöker und Schwulenkino: ein gähnendes Loch, Presslufthämmer, Großstadtgrauen.

Als wir heute in die Fußballübertragung HSV gegen Stavanger reinschauten, fiel Ms. Columbo auf, dass Benny Lauth aussieht wie der leibliche Bruder von Bärbel Schäfer. Und mittags sah ich das neuste Bild von Mel Gibson. Ich schwöre: Er könnte der Zwilling von Saddam Hussein sein. Es ist wirklich verblüffend.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Out on the weekend“ von Paul Weller, „Girl from the north country“ von Leon Russell & Joe Cocker und „Close behind“ von Calexico.

02 November 2005

Der Trainer

Mein Doktor hat eine neue Assistentin, und sie sieht aus wie Scarlet Johansson. Kein Witz. Gleiche Haarfarbe, gleiche Kopfform, die gleichen geschürzten Lippen, das gleiche leicht spöttische Lächeln, ohne Zähne zu zeigen. Und wenn sie dieses Lächeln noch einen Tuck breiter gezogen hätte, wären auf ihren Wangen gewiss zwei Johansson'sche Grübchen entstanden.

Ganz baff stehe ich an der Rezeption – und frage mich, ob der Hollywoodstar hier vielleicht ein Praktikum absolviert oder inkognito für „Ambulance 2“ recherchiert. Leider übernimmt die Blutabnahme eine Kollegin, die mich an keinen einzigen Hollywoodstar erinnert. (Übrigens werde ich hier NICHT verraten, wer mein Hausarzt ist.)


Abends Fitnesstraining. Genauer: Bauchkurs. Der Trainer heißt Awed und weiß einfach kein bisschen, wann es denn jetzt mal gut ist. Wahrscheinlich hat er sich einmal zu oft „Full Metal Jacket“ angeschaut. Der stattliche Mensch auf der Matte neben mir jedenfalls schnauft und prustet, als müsste er sich gerade widerwillig und ohne ansprechendes Druckerzeugnis einen von der Palme wedeln. Was mache ich hier eigentlich? Zwischendurch sagt Awed: „So, die Atmung nehmen wir jetzt einfach mal mit.“ Gute Idee. Zumindest wenn man noch die Kraft zum Atmen hat.


Zum Abschluss, als wir alle schon daliegen wie plattgefahrene Aga-Kröten, treibt dieser sardonische Schinder uns noch hoch auf 36 Liegestütze. Na ja, nicht alle von uns. Und am Ende hängt man dann fertig am Waschbecken rum, klar.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Get Carter“ von Roy Budd, „Rio de Janeiro“ von J. J. Cale und „Samba triste“ von Stan Getz.

01 November 2005

Die Madonna

Ja, gebenedeit sind diese Mauern, diese Steine, gebenedeit die Räume hinter diesen Fenstern, denn ihre Lichter haben die Strahlkraft von Aureolen! Und das liegt daran, dass heute, hinter dem abgebildeten Rotklinker, erstmals auf deutschem Boden (und damit für immer und ewig erstmals!) das neue Madonna-Album erklang. Und ich war dabei, als es sich den Wänden und Steinen imprägnierte, als es in ihre Poren drang mit der ganzen Fulminanz einer Erstaufführung. Dieses Gebäude, soviel steht fest, wird nie mehr das gleiche sein hinfort. Es ist – sagte ich das schon? – gebenedeit.

Auf dem Rückweg passiere ich an den Landungsbrücken einen turmartigen Rundbau, der seit Jahren mit dem Schicksal leben muss, die Vollprollkneipe Pupasch zu beherbergen. Man muss sich das mal vorstellen: Allabendlich fallen Horden von abschlussgefährdet
en Jungs dort ein, die Kampfsaufen für olympisch halten und an die Mär glauben, dass Freigetränke für Mädchen Traumfrauen anziehen, die sie auch noch abkriegen. Träumt weiter.

Auf der Rückseite des Pupasch indes sorgt die Telekom für einen kleinen Anachronismus, nämlich ein Arrangement von Openair-Telefonzellen. Wer, um alles in der Welt, geht denn noch in eine Zelle zum Klönen? Wer akzeptiert es heutzutage noch klaglos, mithilfe eines fest verankerten Kabels an einen klobigen Apparat gefesselt zu sein und dafür auch noch Kleingeld berappen zu müssen? Haben nicht selbst Hartz-IV-Empfänger inzwischen das Menschenrecht auf ein Handy, und sei es prepaid?

Wie auch immer: Die rosa Lichtemissionen dieses an der Pupaschsüdseite voll hübsch drapierten Zellentrios warfen einen derart nostalgischen Glanz aufs Gemäuer, dass es meinem fotografischen Interesse anheimfiel.

Übrigens telefonierte urplötzlich wirklich einer. Ich habe ihn angestarrt wie einen Pandabären bei Hagenbeck.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Ain't no sunshine“ von Jazzamor, „Sportif“ von Heights Of Abraham und „Kisses“ von Bent.