31 Dezember 2009

Offener Brief zu Silvester (4)



Unten am Fischmarkt herrschte heute Nachmittag die Ruhe vor dem Sturm. Doch wer weiß, ob der einsame Anhänger die Nacht unbeschadet überstehen wird.

Ein sorgenvoller Gedanke, der mich übrigens alljährlich an Silvester heimsucht und stets zu einem warnenden Appell in Form eines Blogeintrags gerinnt.

In diesem Jahr formuliere ich ihn allerdings nicht neu, sondern verweise auf die insgesamt bereits drei inständigen Vorgängereinträge, deren kassandrische Prophetie bisher noch jedes Jahr am Neujahrstag die Welt verblüffte. Außer mir natürlich.

Man sieht sich 2010, hoffentlich noch mit allen Körperteilen – und zwar am besten genau dort, wo sie naturgemäß hingehören.

(Nein, das war jetzt nicht anzüglich gemeint.)

Falsche Signale

Sie sieht aus wie 90 plus, und wahrscheinlich ist sie das auch. Hutzelig, krumm und ohne Gebiss sitzt sie im Rollstuhl vor der Postfiliale an der Ecke, vor der die Fenster der parkenden Autos hübsch mit Schnee gepudert sind.

Gerade war sie am Geldautomaten, jetzt kommt sie zentimeterweise auf mich zugeruckelt. In der linken Hand, die auf ihrem Bauch liegt, hält sie die komplette Januarrente, und zwar in Form einer unbestimmten Anzahl von 50-Euro-Scheinen.

Das Geld leuchtet rot im weißen Licht des Kiezwinters. Ich weiß nicht genau, ob die Gefahr, an der Reeperbahn ausgeraubt zu werden, statistisch signifikant größer ist als in Altenmark an der Alz. Aber ich weiß, dass eine circa 90-Jährige im Rollstuhl mit einem Bündel rötlich leuchtender 50-Euro-Scheine vorm Bauch nicht gerade entmutigende Signale an potenzielle Diebe sendet.

„Sie sollten Ihr Geld lieber wegstecken“, empfehle ich. Ihr Rollstuhl ist inzwischen zum Stillstand gekommen. „Ich weiß“, sagt sie mit zahnarmem Lächeln und brüchiger Uromastimme, „das ist gefährlich.“

Sie beginnt mit zittrigen Fingern die Scheine in die Börse zu friemeln. Es klappt nicht, man müsste ihr tatkräftig helfen. Man müsste ihr die Börse und die Scheine abnehmen und …

Ich bin aber dann doch lieber Brötchenholen gefahren. Schließlich will ich Silvester auf German Psychos Party verbringen – und nicht auf der Davidwache.

29 Dezember 2009

Ohne Worte (66): Der Slogan des Jahrzehnts



Mit freundlichen Grüßen an Mario Barth.

Keine Traute

Vom Weihnachtsbesuch im elterlichen Heimatdorf (Detailfoto) mit unverändertem Körpergewicht zurückzukehren, ist eigentlich kein Anlass, um gleich montags wieder im Fitnessstudio einzukehren.

Dort saß ein Typ Marke Hell’s-Angels-Türsteher am Bizepstrainer: Glatze bis zum Stammhirn, schwarzes Muskelshirt mit Runenzeichen und tätowiert bis zur Poritze. Sein Nachbar am Adduktorengerät, ein deutlich schmaleres Hemd, fragte den Trumm: „Machst du Zirkel?“

„Nee“, antwortete der (mit einer erstaunlich dünnen Stimme, ähnlich der von Hänschen Rosenthal, falls sich an den noch jemand erinnert). „Das ist gut“, atmete der Schmale hörbar auf, „ich will nämlich zwischen unseren beiden Geräten wechseln.“

„Kein Problem“, kam es zurück. Allerdings blieb der Brocken dessen ungeachtet weiter sitzen. Ab und zu wuppte er ein paar Züge (natürlich einarmig), dann ruhte er wieder in sich wie ein Buddha des Bösen, und zwischendurch schnackte er mit Inkasso-Henry, der ihm pumpend und ächzend gegenüber saß.

Der Schmale trippelte derweil unruhig hin und her, setzte sich mal links und mal rechts neben den Tätowierten, stellte sich in die Nähe an den Tisch, tat, als müsste er was trinken, lief auf und ab – und traute sich bis zu seinem frustrierten Abgang nicht mehr, den Muskelmann an seine Zusage zu erinnern.

Zu Hause vertrimmt er wahrscheinlich ersatzweise seinen Hamster.

25 Dezember 2009

Bousdoukos hat auch eine ruhige Seite

Die automatische Damenstimme in der U3 betont unsere Haltestelle irgendwie komisch.

„Nächste Station: Sankt P…AU…li“, flötet sie. Beim Diphtong hebt sie die Stimme, und zwar anzüglich. „Als wenn sie sagen wollte: ,Sie wissen schon …'“, analysiert Ms. Columbo. Ganz genau. Ein vokales Augenzwinkern. Die Hochbahn weiß eben, was sie dem Kiez schuldig ist.

Rund um die Reeperbahn herrschte heute überwiegend Feiertagsruhe. Allerdings haben wir die Herbertstraße dahingehend nicht überprüft. Allweihnachtlich sollen sich dort ja die Entrechteten und Geknechteten besonders ballen, um sich für – sagen wir – 150 Euro temporär die Einsamkeit abkaufen zu lassen.

Wir hingegen taperten quer durch die Stadt, um im Mundsburgkino Fatih Akins „Soul Kitchen“ zu gucken. Ein Film, der wirkt, als hätte er sich an einem Aufputschmittel verschluckt, so penetrant ballert er uns mit bedeutsam gemeinter Musik zu, so überdreht ramentert das Ensemble durch die Kulissen; vor allem Adam Bousdoukos
als bandscheibenvorfallgeschädigter Gastronom.

Übrigens war Bousdoukos am Dienstag, als ich mit dem Franken und Kramer beim Mercadoitaliener speiste, ebenfalls aufgetaucht und goutierte mit ein paar Freunden die hervorragenden (weil selbstgemachten) Nudeln. Allerdings machte er privat weit weniger Krach als im Film, und wäre mir „Soul Kitchen“ am Dienstag bereits bekannt gewesen, so hätte ich Bousdoukos dafür sicher ausdrücklich belobigt.

Denn kaum etwas ist mir unangenehmer, als wenn man mich beim Lasagneessen mit Deppenleerzeichen (Foto) oder Lärm behelligt, der über das eh schon dezibelintensive Geplapper und Gelaber Kramers und des Franken hinausgeht.

Zusätzlich erträglich wäre höchstens eine Damenstimme, die „Sankt P…AU…li“ flötet, doch in der U-Bahn esse ich so gut wie nie Lasagene, vor allem keine selbstgemachte.


24 Dezember 2009

Santa Graus



An anderer Stelle habe ich es schon einmal betont: Wer von Anhängern monotheistischer Religionen nicht mit Hass, Empörung oder Mitleid bedacht wird, sollte seine Außenwirkung ernsthaft hinterfragen.

Doch auch die Außenwirkung manch monotheistischer Religion ist bisweilen dazu angetan, Gefühlswallungen negativer Art bei uns Nichtkontaminierten hervorzurufen. Der hüftsteife Santa-Claus-Roboter ist dafür ein gutes Beispiel.

Was bloß bewegt einen Altonaer Pizzeriachef mit wahrscheinlich römisch-katholischem Hintergrund, so etwas vor seiner Tür aufzustellen und leeren Blicks „Ho ho ho“ brummen zu lassen? Sänge das … Ding … wenigstens Verdi!

Und damit allen frohe Weihnachten.


21 Dezember 2009

Die gemütlichsten Ecken von St. Pauli (18): Pooca, Hamburger Berg



Die Fassade der „Pooca-Heiligebimbambar“ ist mit tausenden von Passbildern aus dem Automaten verziert. Man kommt nicht umhin, davor stehenzubleiben und sich eine Weile der bunten Parade der Mimiken zu widmen.

Ein Effekt, auf den der Besitzer der Bar sicherlich spekuliert. Wer erst einmal stehengeblieben ist, so ein altes Koberergesetz an der Reeperbahn, ist schon so gut wie drin im Laden.

Die Automatenfotos stammen allerdings, wie es scheint, nicht von den bisherigen Gästen der Heiligebimbambbar, sondern wohl von professionellen Darstellern, die sich in interessanten Posen üben. Jene Volksnähe, welche die gesichtsgesättigte Fassade gerne ausstrahlen möchte, wird damit aber ein wenig beeinträchtigt.

Ich betrat übrigens das Pooca trotz der vielgesichtigen Argumente nicht, was vielleicht damit zusammenhing, dass sie gerade geschlossen hatte.

Doch kommt Zeit, kommt Bar. So ist das ja immer.

Die gute Samariterin



Kälte, Eis und Schnee senken die Vollhorstquote auf dem Kiez erheblich, wie dieses Foto der Seilerstraße von heute Abend eindrucksvoll beweist: Kein einziger ist darauf zu sehen.

Doch es gibt ja auch eine erstaunlich hohe Anzahl furchtbar netter St. Paulianer, die aber auf diesem Foto ebenfalls nicht zu sehen sind. Einer Vertreterin dieser Spezis begegnete ich unlängst bei Edeka, und zwar an der Kasse.

Ich Vollhorst hatte meine Börse zu Hause vergessen, und nach dem Zusammenkramen all meines Kleingeldes kam ich auf genau 1,31 Euro zu wenig. Die Schlange hinter mir runzelte bereits die Stirn, doch was tat die Verkäuferin? Sie erbot sich, mir 1,31 Euro ihres Trinkgeldes zu leihen.

Ich wusste bis dahin schändlicherweise nicht einmal, das Supermarktverkäuferinnen überhaupt trinkgeldberechtigt sind. Doch so ist es; die 1,31, die sie mir herüberreichte, sprachen Bände. Verlegen und unter Rückzahlungsversicherungs- und Dankesgestammel nahm ich die Münzen an, nur um sie ihr kumuliert um meine eigenen kläglichen Vorräte sogleich wieder auszuhändigen.

„Bis 3 bin ich noch hier“, sagte sie. Ich huschte nach Hause, holte meine Börse und eine Flasche Weihnachtslikör, huschte wieder zu Edeka – und fand die Samariterin nicht mehr. Weder an der Kasse noch im Laden.

Ihren Namen hatte ich mir leider nicht gemerkt. Und um eine x-beliebige Kollegin mit einer Personenbeschreibung („Diese dralle Blonde mit Zopf“) zu belästigen, fehlte mir traditionellerweise der Mut.

Eine Stunde später unternahm ich den nächsten Versuch – diesmal mit Erfolg. Die auf 2 Euro aufgestockte Rückzahlung nahm dieser Engel des Advents ebenso erfreut entgegen wie den Weihnachtslikör.

Insgesamt waren das die teuersten vier Brötchen meines Lebens. Keine Ahnung, warum ich mich auf dem Nachhauseweg trotzdem reicher fühlte als vorher.


17 Dezember 2009

Zurück aus dem Wachkoma

Dieses Blog lag tagelang aus vollkommen ungeklärten Gründen im Wachkoma.

Während die Welt sich rührend um mich sorgte, gelang mir nicht die kleinste vernehmbare Äußerung, und die verzweifelte Hoffnung, man möge sich doch bittebitte via Twitter (links in der Leiste unterm Kalender, liebe Leser!) informieren, sie trog.

Stattdessen erhielt ich stirnrunzelnde Kommentare (nur per Mail, sie wurden ebenfalls nicht veröffentlicht) und sogar sorgenvolle Anrufe. Auch Hilfsangebote waren dabei, was mich besonders freute; Dank gebührt vor allem nodch, der technische Unterstützung in Aussicht stellte.

Das Phänomen des plötzlichen Lahmliegens, das aus dem Nichts gekommen war, verschwand indes auf genau die gleiche Weise – und das ist so hocherfreulich wie beunruhigend. Denn es kann wieder passieren.

Immerhin hat es sein Gutes: Ich merkte, wie sehr mein tägliches Bloggen mir ans Herz gewachsen war – und wie vielen Lesern es ähnlich ging. Zumal ich in der Zwischenzeit sogar einige berichtenswerte Erlebnisse hatte hier auf dem Kiez, darunter die splitternacktesten Tatsachen, die mir hier je unterkamen, es ist unfasslich.

Doch dazu mehr in den nächsten Tagen. Sofern jenes höhere Wesen, das wir alle verehren, mich lässt: das Internet.

14 Dezember 2009

Wie ich meine Schokovorräte retten werde



Seit Jahren betätigt sich Kollege Kramer als skrupelloser Schokoripper. Und er wird immer schamloser.

Tagtäglich kommt er inzwischen hereingeschlurft, murmelt dumpf „Brauche Schokolade“ und öffnet hinter meinem Rücken umstandslos den Bisley, um aus der dritten Schublade von oben meine Tafel „Ritter Sport Voll-Nuß“ hervorzukrame(r)n. Davon bricht er mit der gleichen Hand, mit der er sich kurz zuvor im Schritt kratzte, eine ordentliche Rippe ab und verzehrt sie sogleich, und zwar mit der Emsigkeit eines ausgehungerten Eichhörnchens.

Das geht natürlich nicht, und ich tüftele seit längerem an Gegenmaßnahmen. Eine Zeitlang hatte ich recht großen Erfolg mit der Taktik, die Schublade, in der die Schokolade lagert, regelmäßig zu wechseln. Kramer zog die gewohnte auf, stierte dumpfen Blicks hinein, entdeckte nirgends die Süßigkeit, machte mir zeternd Vorwürfe und entfernte sich unter protestierendem Gebrabbel.

Das waren schöne Zeiten.

Irgendwann aber kam der Fuchs auf den Dreh, probeweise mal eine andere Schublade aufzuziehen, und bingo. Sein Vorgehen führt also letztlich immer zum Erfolg. Der Franke, seinerseits lange triste Jahre der bevorzugt von Kramer Gebeutelte, hat sich inzwischen gänzlich von der Schokoladenlagerhaltung verabschiedet. Er schnorrt jetzt bei Bedarf selbst ab und zu ein Stück bei der temporär anwesenden 400-Euro-Kraft.

Aufgrund dieser plötzlich versiegten Frankenquelle war ich es, der zunehmend in den Fokus Kramers geriet – mit den oben geschilderten Folgen. Allerdings glaube ich nun eine Taktik ausgetüftelt zu haben, die der Raffinesse des systematischen Mundräubers Rechnung trägt, ihn aber gleichwohl in eine psychologische Falle lockt.

In der als Ort der Verheißung fest etablierten dritten Schublade von oben nämlich deponiere ich neuerdings nur noch ein ganz klein wenig Schokolade, im Schnitt eine Drittelrippe. Die wahren Vorräte indes befinden sich nun – aufgemerkt – im vierten Schubfach.

Darauf wird Kramer nie kommen, da er ja wie üblich in der dritten fündig wird, wenngleich in einem frustrierenden Ausmaß. Er wird sich – so meine Hoffnung – im Lauf der Zeit derart über den empörenden Mangel ebenda ärgern, dass er seine Raubzüge nach und nach ganz einstellt, zumal ein bei ihm noch immer vorhandenes Quäntchen Anstand ihn erstaunlicherweise davon abhält, Reste ratzeputz zu verzehren.

Eine geniale Taktik, wie ich finde. Kramer darf nur nie erfahren, dass das Paradies inzwischen umgezogen ist und am üblichen Ort lediglich ein Köder deponiert wurde, der in gleichem Maße beschwichtigend wie frustrationssteigernd wirken soll.

Zum Glück liest er dieses Blog nicht. (Hoffentlich.)

09 Dezember 2009

Ikea spart an allem



Diesen tautologischen Slogan von Ikea, den wir am S-Bahnhof Billwerder-Moorfleet entdeckten, hat die gewiefte Werbeagentur erst einmal ohne zwei nötige Kommas ausgeliefert. Wahrscheinlich hat sie die Satzzeichen als Pfand zurückbehalten, bis Ikea die Rechnung bezahlt.

Oder es handelt sich um gewollte Selbstironie; vielleicht will Ikea damit augenzwinkernd anspielen auf die beim Zubehör seiner Möbel oftmals fehlende eine Schraube (mindestens).

Dann freilich nähme ich alles zurück.


08 Dezember 2009

Die gemütlichsten Ecken von St. Pauli (16)



Im Dock gegenüber den Landungsbrücken werkeln sie angeblich an der Jacht des russischen Fantastilliardärs Roman Abramowitsch.

Damit niemand einen Blick darauf erhaschen kann, haben sie ein hausförmiges grünes Ganzjachtkondom drübergestülpt.

Das sieht abends sehr schön aus.

06 Dezember 2009

Marke Ludenglück

Es ist 2.13 Uhr in der Früh, und von draußen dringt enervierend rhythmisches Hupen durch die Fenster, obwohl sie schallisoliert sind. Eine Alarmanlage, natürlich.

Der Blick vom Balkon identifiziert den Schuldigen. Es handelt sich um einen silbernen Sportwagen Marke Ludenglück, mit haifischartigen Kiemenapplikationen an den Seiten und so tiefgelegt, dass du dafür einen Tauch-
statt Führerschein brauchst.

Der Silberling trötet und blinkt wie von Sinnen, doch weit und breit ist kein Autoknacker zu sehen. Nur drinnen rührt sich was, das ist von oben durch die Windschutzscheibe deutlich zu sehen. Man sieht eine Hand, Stoff bewegt sich.

Plötzlich verstummt der Alarm. Dann geht er wieder los. Und verstummt wieder. Noch während ich unschlüssig überlege, ob ich wieder mal bei der Davidwache anklingeln soll, öffnet sich die Beifahrertür und eine junge Frau steigt aus.

Im Halbdunkel der Kieznacht ist sie nicht richtig zu erkennen, doch ihre Figur ist eindeutig Marke Ludenglück und ihr Minirock derart hochgerutscht, dass ich automatisch wieder durch die Scheibe linse, um eventuelle weitere Insassen, die möglicherweise für die Derangiertheit der Dame mitverantwortlich sind, erspähen zu können.

Das scheint aber nicht der Fall zu sein. Der Rock muss ohne Fremdeinwirkung hochgerutscht sein. Jetzt zieht sie ihn runter, ob seiner Passgenauigkeit mit einer gewissen Anstrengung.

Sie wirft die Tür zu, zwei Versuche braucht sie dafür. Dann geht sie los mit geradezu schnippischem Schritt – und generiert damit einen erneuten Proteststurm des Sportwagens, optisch wie akustisch.

Sie bleibt stehen, stampft mit dem rechten Pumps empört auf den Seilerstraßenbürgersteigbeton und kreischt in einem hochfrequenten Mix aus Verzweiflung und Empörung: „Stilllll!“

Augenblicklich ersterben Lärm und Licht. Dann stöckelt sie endgültig davon, und der Wagen bleibt stumm für den Rest der Nacht, vielleicht für immer.


Eine kam durch (und davon)

 

Tauben sind die populärsten Tiere hier auf der Rückseite der Reeperbahn. Allerdings aus den falschen Gründen. Denn es ist echt zum Milbenmelken: Schon wieder schaffte es eine Taube auf unseren vollvernetzten, inzwischen gar mit Drähten gesicherten, kurz: zur quasi uneinnehmbaren Trutzburg ausgebauten Balkon. Den Horden Dschingis Khans hätte er gewiss mondelang widerstanden, doch leider nicht den hiesigen Luftratten. Zumindest einer nicht. 


Die verlustigte sich hier nun fröhlich flatternd und stürzte sich immer wieder kopfüber und krallenvoran ins Netz juchhe, während ihre Gang draußen auf dem Baum saß und Haltungsnoten vergab. Eine selbstverständlich untragbare Situation. Doch diesmal war kein Profivergrämer mehr nötig, oh nein. Es war klar, was zu tun war. 

Ich suchte mir die älteste, fleckigste, gelbste Pannesamtdecke aus den niedersten Niederungen meines geerbten 19.-Jahrhundert-Steckschranks und betrat den Balkon wie Django, nur halt ohne Sarg und Knarre. Aber mit Pannesamtdecke. Das Tier wusste augenblicklich, was auf es zukam, und nahm die Herausforderung an. 

Es folgte eine wilde Jagd auf engstem Raum, die darin bestand, dass ich ein ums andere Mal den Samt durch die Gegend warf wie Lucky Luke sein Lasso, nur mangels Übung ohne dessen Treffsicherheit. Die Taube entkam gewiss ein Dutzend mal. Doch dann war es soweit: Die Decke begrub den Vogel unter sich – was ihn erstaunlicherweise sofort in eine für mich höchst kommode Duldungsstarre versetzte. 

Warum wehrte er sich nicht mehr – war es Erschöpfung? Taktik? Einsicht gar? Wie auch immer: Ich konnte ihn packen, mitsamt Decke auf den unbefestigten und dennoch von Tauben komplett verschmähten Südbalkon tragen und dort aus dem Samt schütteln. 

Auf dem Weg durch den Flur war nur kurz der Gedanke an einen leckeren Taubenbraten aufgeflammt. Doch wenn man gerade keinen Metzger zur Hand hat, sind die sich abzeichnenden Begleitumstände seiner Herstellung doch recht unappetitlich. So nahm ich Abstand. Stattdessen delektierten wir uns später an Rotbarsch. 

War wohl eine Art Übersprungshandlung.

05 Dezember 2009

Fundstücke (62): Lose Zusammengekehrtes

Neulich bewarb sich ein freier Autor bei mir. Seine Fähigkeiten als Sprachästhet versuchte er per Mail mit folgendem Wortquas herauszustellen:

„Hiermit generiere ich Ihnen Abdruckrechte zur Berichterstattung meines Interviews.“

Das war natürlich zum Davonlaufen (Beispielfoto, mit den Beinen von Ms. Columbo), und eigentlich sollte in einem solchen Fall die goldene Regel gelten: Nicht mal ignorieren. Das tat ich dann auch.

Ungefähr am gleichen Tag beteiligte sich eine weitere Combo am so berüchtigten wie bockelharten Wettbewerb um den ekligsten Bandnamen der Welt. Sie hofft auf eine Weltkarriere mit dem Einfall The toten Crackhuren Im Kofferraum. Die Chancen sind m. E. eher gemischt.

Dazu passt ein ganz bisschen ein Flohmarktdialog, den ich unlängst auf dem Schlachthofgelände genießen durfte.

Händler: „Wie kann ich Ihnen helfen?“

Kunde (vergnügt): „Mir ist nicht mehr zu helfen. Sagt meine Frau.“

02 Dezember 2009

Pfannkuchen!



Paul McCartney wunderte sich ziemlich darüber, beim Betreten der Bühne der Color Line Arena ausgepfiffen zu werden. Doch sein Publikum – darunter viele Leute, die ihn schon im Starclub live gesehen haben könnten – war heute Abend einfach nicht mehr jung und tolerant genug, um ihm die fast anderthalbstündige Konzertverspätung nachzusehen. Auch bei mir wollte das „OmfG: Ich bin in einem Raum mit einem BEATLE!“-Gefühl nicht aufkommen.

Nach einer Stunde abgeschmackten Heavyrocks legte McCartney dann ein hübsches akustisches Intermezzo ein, inklusive „Blackbird“. Der unterhaltsamste Moment war aber der, als er ohne jede kontextuelle Einbindung unvermittelt „Spiegelei auf Toast!“ sagte. Und direkt danach „Pfannkuchen!“.

Und warum? Weil er es kann. Auch nach 49 Jahren noch.

Schtand licht hat viele Vorteile



Der Fahrradladen meines bedingungslosen Vertrauens kam hier im Blog schon mal vor, und zwar auf etwas delikate Weise.

Nach einem mehrmonatigen Interimsdomizil in der Clemens-Schultz-Straße ist er vor einiger Zeit wieder zurückgezogen in sein Stammhaus in der Talstraße, und ebendort wurde ich heute
mal wieder erzwungenermaßen und dennoch freudig vorstellig. Nach meinem dilettantischen Versuch nämlich, die hintere Lampe zu reparieren, ging nun auch die vordere nicht mehr. Irgendetwas Rumpeldummes hatte ich mit den Kabeln angestellt, mir passiert so was immer.

Eine komplett defekte Belichtungsanlage ist dummerweise ein Manko, welches die Hamburger Polizei derzeit mit einer Gnadenlosigkeit verfolgt, die an die damalige Fahndung nach Albaner-Willi erinnert. Deshalb musste ich in den Fahrradladen.

Als ich dort meinen Anteil am Problem beschönigungslos geschildert hatte, kümmerte sich sogleich der Chef um mich. Er ist ein kleiner gedrungener Mann mit gemütlicher Frontwölbung, der stets schüchtern lächelt und so eine grundsympathische Melancholie verströmt. Da die augenblicklich in Angriff genommene Reparatur etwas länger dauerte, konnte ich mich umsehen.

Erstmals in meiner langen Karriere als Ladenbesucher nahm ich die Ausstattungsmerkmale der Fahrräder auf den angehefteten gelben Zetteln in Augenschein. Ein hochinteressantes Studienobjekt. Sie sind per Hand beschriftet, wahrscheinlich vom Chef persönlich.

Da gibt es zum Beispiel ein „Renrad“ mit beeindruckender „Rahmen grose“. Viele Modelle verfügen lobenswerterweise über eine „Rücktred Brems“, was ich aus Sicherheitsgründen unterstützenswert finde.

Und hätte ich just ein paar Euro mehr zur Hand gehabt, wäre es gewiss eine Überlegung wert gewesen, Ms. Columbos allzu schmalen Fahrzeugpark um das ausgelobte Damenrad mit „schtand licht“ und „und plad bare Reifen“ zu erweitern. Zumal es über „3 gönge“ verfügte, wenn auch nicht über „Bremz scheiben“.

Inzwischen war Cheffe fertig, er hatte meinem Fahrrad hinten ein „schtand licht“ montiert. „Mit LED“, sagte er stolz und melancholisch, „die lade auf, wenn trede. Un brenne weider an Ampel.“

Genauso muss es sein. Hoffentlich geht bald wieder was kaputt an meinem Rad.


01 Dezember 2009

Effizienz am Arbeitsplatz

Matt: (stellt der vermeintlich zuständigen Mitarbeiterin das defekte Homehandy auf den Tisch): „Putt.“
Vermeintlich zuständige Mitarbeiterin: „Sarah.“
Matt: „Ist nicht da.“
Vermeintlich zuständige Mitarbeiterin (nimmt Telefon, drückt ein paar Tasten, es funktioniert sofort wieder): „Da.“
Matt: „Wtf?
Vermeintlich zuständige Mitarbeiterin: „Vorführeffekt.“
Matt
(geht. Kann ab sofort wieder angerufen werden.)


30 November 2009

Echt dufte

Blogleserin Susanne betreibt einen Parfümladen in Halle und hat sich entschieden, drei Prozent ihres Gesamtumsatzes im November und Dezember an die Deutsche Kinderkrebsstiftung zu spenden.

Das ist natürlich klasse, doch weshalb sie sich mit der Bitte um Erwähnung dieser Aktion ausgerechnet an mich wendet, war mir zunächst schleierhaft. Dann dämmerte mir aber, dass es bestimmt mit der Fülle ofaktorisch bedenklicher Beiträge wie diesem zusammenhängt.

Warum sie aber glaubt, dieses kleine Kiezblog würde außer ihr noch von irgendeinem weiteren Hallenser (Hallener? Haller? Hallo?) gelesen – was ja erst die Grundlage für einen gleichwohl höchst unwahrscheinlichen Werbeeffekt wäre –, bleibt mir auch nach längerem Grübeln unklar.

(Eigentlich müsste ich diesen Beitrag von der Steuer absetzen können. Leider hat er keine Kosten verursacht.)

29 November 2009

Nichts wie raus

Die beiden jungen Blondinen, die kurz nach Mitternacht in Altona unseren S-Bahnwagen betraten, lachten und scherzten. Zwei fröhliche Teenager auf dem Weg in die Nacht.

Es war keineswesgs abzusehen, dass eine der beiden sich unmittelbar vor Erreichen der Station Reeperbahn exorbitant erbrechen würde, und zwar in mehreren kräftigen Schüben, die gelbrot und lautstark auf den Boden pladderten.

Noch während dies in unserer unmittelbaren Nähe geschah, hielt die Bahn, und selten zuvor in unserer HVV-Geschichte war das Aussteigen von einem derartigen Gefühl der Erleichterung geprägt wie diesmal.

Mein Mitgefühl galt den uns entgegenbrandenden Massen, die nun nichtsahnend hineindrängten. Ihr Schicksal war besiegelt, daran war nichts mehr zu ändern.

Die beiden Kreuztaler Anwälte haben mit dieser ganzen Geschichte übrigens nicht das Geringste zu tun.

28 November 2009

Die falsche Schlange

Aldi im Brauquartier (Foto), an einem nassen dunklen Novemberfreitag. In der einzigen Kassenschlange nehme ich eine mittlere Position ein.

Schräg neben mich gesellt sich plötzlich ein grobschlächtig wirkender Narben- und Mützenträger mit einem Sechserpack Holsten im Arm. Klar, er will reingelassen werden, doch wenn er nicht fragt, kriegt er auch keine Antwort. So ist das.

Außerdem – und da ist geradezu der Kategorische Imperativ voll auf meiner Seite – darf man keinesfalls einen Menschen in mittlerer Schlangenposition als ersten ums Vorlassen ersuchen, sondern muss fairerweise hinten anfangen.

Schließlich kann niemand, der bereits ansteht, das Einverständnis jedes Einzelnen hinter sich voraussetzen – und das wäre unbedingt erforderlich, denn der Holsten-, Narben- und Mützenträger scherte ja nicht nur vor mir ein, sondern auch vor allen anderen dahinter.

Wie auch immer: Ich ignoriere den Mann und rücke ungerührt und schweigsam vor. Er nutzt allerdings die sich dadurch kurz öffnende Lücke, um sich wortlos hinter mir in die Schlange zu mogeln. Keiner sagt was. Präadventsdumpfheit.

Die Schlange ist inzwischen so lang wie ein Reisebus. Endlich bequemt sich Aldi, das Öffnen einer weiteren Kasse per Klingelzeichen anzukündigen. „Das wurde aber auch Zeit, dass es hier mal klingelt!“, blökt der Holstenmann hinter mir. Keiner sagt was.

Jetzt kommt der neue Kassierer, und vor und hinter mir stürzen sie alle ans frisch eröffnete Förderband. Mister Undgeduld ist nun Nummer 4 in der neuen Schlange, ich in meiner Nummer 6.

Doch es flutscht außergewöhnlich prächtig, mein Kassierer ist ein echtes As, eine Art Ribéry des Warenscanners, ich schiebe mich praktisch kontinuierlich vor und bin auf einmal auch schon dran. Als ich alles in den Wagen geräumt habe, linse ich hinüber zur anderen Schlange. Die Kasse ist schon wieder verwaist, es gab wohl ein Problem, ein technisches wahrscheinlich, so ist das ja meistens.

Der Grobschlächtige jedenfalls ist die kochende Nummer 3. Er hat also nur eine Position gutgemacht, ich fünf. Jetzt steht er da neben seinem Sechserpack und schüttelt bitter lächelnd den Kopf, seine Augen sind geschlossen.

Ich weiß, es ist nicht gerade ein weihnachtliches Gefühl und es wirft kein gutes Licht aufs Niveau meiner sittlich-moralischen Grundausstattung, doch ich lasse es einfach stillvergnügt zu, dieses kleine Bisschen Häme.

Zumal der Holstenmann sich noch nicht mal zum Trost an einer Flasche laben kann – er hat sie ja noch nicht bezahlt.


26 November 2009

Die gemütlichsten Ecken von St. Pauli (14)



Der Fetischshop Boutique Bizarre an der Reeperbahn.

Ein salomonisches Stöckchen



Eigentlich wollte ich hier und jetzt demonstrativ genervt aufstöhnen, weil es die unverschämte Sinnsphäre gewagt hat, mir eins jener unseligen Stöckchen zuzuwerfen, die eigentlich längst von der Genfer Konvention geächtet wurden.

Ich bin doch kein Dackel!, wollte ich ihm bereits aufgebracht entgegenschleudern, war aber davon sediert, dass er im Zusammenhang mit mir das Adjektiv „genial“ gebrauchte, und wer kann sich dagegen schon wehren?

Allerdings ist das Aufnehmen eines Stöckchen mit Arbeit verbunden, und als jemand, der die Bequemlichkeit weit mehr schätzt als den Schweiß, läge mir kaum etwas ferner. Dass ich es dennoch aufnehme, liegt aber nur zum Teil an der Schmeichelei.

Nein, der entscheidende Grund ist der, dass ich im Grunde die mir auferlegte Arbeit schon längst getan habe, nämlich im Rahmen dieses Interviews.

Eine salomonische Lösung – zumal ich das unlängst in Wien geknipste Foto in einem inhaltlich gerechtfertigten Zusammenhang endlich verbloggen kann.

So ist allen geholfen.

25 November 2009

In Wind, Wetter und aller Ruhe

Es gibt kaum einen lächerlicheren Anblick als Menschen, die mit aufgespanntem Schirm Fahrrad fahren.

Einhändig karriolte heute ein älterer Herr dergestalt die Straße lang, während der hanseatische Sprühregen ihn gleichwohl von allen Seiten einnässte, und zwar hämisch.

Menschen, die mit aufgespanntem Schirm Fahrrad fahren, müssen Zugezogene sein. Hamburger tun so etwas nicht. Hamburger ziehen sich einfach wetteradäquat an, in jeder Situation, auch und vor allem, wenn sie Fahrrad fahren wollen.

Andererseits kann nicht jeder Dödel, der bei Sturm mit offenem Schirm die Straße betritt, ein Zugezogener sein. Dafür sieht man zu viele dieser hilflosen Trottel mit wild um sich schlagenden Schirmen ringen, und dafür liegen dieser Tage viel zu viele logischerweise zerfetzte Schirme im Rinnstein.

Doch es geht auch anders. Heute Abend sah ich auf der Reeperbahn einen Radfahrer im hochgeschlagenen Trenchcoat, der hielt kurz an, um sich in Wind, Wetter und aller Ruhe eine Pfeife anzuzünden, statt einen Schirm aufzuspannen. Dann radelte er weiter, kleine Rauchwolken in die Kieznacht pustend wie Emma, die Lok von Jim Knopf.

Ich werde es zwar nie beweisen können, aber das war mit Sicherheit kein Zugezogener.


23 November 2009

Saugen für die Wissenschaft

Wie langjährige Besucher der Rückseite der Reeperbahn wissen, wirke ich als Lenker meines Staubsaugers nicht immer segensreich und oftmals nur vage handbuchkompatibel.

Zum Beispiel gelang es mir beim Reinigen des Multifunktionsgerätes im Büro schon einmal versehentlich, ein bis heute unbekannt gebliebenes Schreiben an eine bis heute unbekannt gebliebene Frankfurter Nummer zu faxen.

Heute hingegen saugte ich turnusmäßig die Tastatur meines MacBook Pro und generierte nebenbei unverhofft ein munter aufploppendes Dialogfensterchen, das mich fragte, ob ich das sogenannte „Caret Browsing“ einschalten wolle.

Caret Browsing? Nie gehört. Wie jeder getriebene Forscher seit Galilei entschloss ich mich gleichwohl zum Einschalten, und siehe da: Caret Browsing entpuppte sich als recht nützliches Feature, das ich hinfort nicht mehr missen möchte – und alles nur, weil ich es unerschrocken wage, mit der brachialen mechanischen Urgewalt eines Staubsaugers besinnungslos und blind in die Welt des Digitalen vorzustoßen.

Auf ähnliche Weise sind wahrscheinlich auch das Penicillin, die Spaltbarkeit des Atoms und Amerika entdeckt worden. Um mir die okkulten Tiefen aller Programme des MacBook Pro erschließen zu können, müsste ich allerdings noch einige Äonen lang weitersaugen.

Aber soooo dreckig ist es auf der Rückseite der Reeperbahn nun auch wieder nicht.

P.S.: Eigentlich hätte ich im obigen Text die Tätigkeit des Staubsaugens gern als Blowjob minus Sex bezeichnet, doch das wäre mir im Kontext dieses Blogs doch etwas zu gewollt vorgekommen. Also habe ich es gelassen, und zwar komplett.

21 November 2009

Alle Menschen werden prüder



Seit Jahren wird die Welt immer sexualisierter. Schon 12-Jährige gehen auf Gangbangs, jede C-Promi-Tusse lässt unaufgefordert die Glocken baumeln, und wenn wirklich noch kein Blowjob von dir auf Youporn zu sehen ist, bist du von gestern oder prüde.

Doch ausgerechnet der Kiez stemmt sich gegen diesen Trend – zumindest legt das renovierte Mauerbild an der Reeperbahn/Ecke Hein-Hoyer-Straße das nahe.

Erstmals fotografierte ich das Motiv 2006 (links). Gerade wurde es generalüberholt, nicht nur farblich, und siehe da: An pikanter Stelle tat sich äußerst Signifikantes. Ob bei der Dame noch alles fit im Schritt ist, vermag man neuerdings nicht mehr zu beurteilen, dafür fehlt jetzt die phänomenologische Basis.

Wird also ausgerechnet das Rotlichtviertel allmählich zu jener Tabuzone, die der Rest der Welt längst nicht mehr ist? Und was kommt als nächstes: Wickelhosen für die gespreizten Beine am Eingang der Ritze? Zuhälter, die „Was guckst du?“ blaffen, wenn man ihr Personal mustert? Huren, die mit dir für 50 Euro nur noch über den Bundeswehreinsatz in Afghanistan diskutieren wollen?

Ich werde das weiter beobachten, und zwar mit Sorge und Bestürzung.

20 November 2009

Das Kreuz mit dem X



„Nein, tut mir Leid“, sagt der Polizist auf der Davidwache zu dem streng riechenden Mann, der vor ihm am Tresen steht, „gegen Sie liegt kein Haftbefehl vor. Ich habe im Computer nachgeschaut.“

Kein ganz uncleverer Versuch. Gleichwohl kann sich der Duftbolzen die geplante Nacht in der warmen Zelle nun abschminken. Scheißcomputer.

Ersatzweise durfte er sich die Novembersonne auf den Pelz brennen lassen – und ein kapitales Kondensstreifenkreuz am Hamburger Himmel bewundern, das uns alle schon mal einzustimmen versuchte auf den Advent, ob wir nun ein Dach über dem Kopf haben oder nicht.

Vielleicht war es aber auch nur ein X
.

Foto: Ms. Columbo

19 November 2009

(K)ein Abend für Fußfetischisten

Während des Essens vorm Fernseher auf arte damit konfrontiert zu werden, wie jemand einem kranken Schaf die Klauen kürzt, bis sie bluten, erzwingt natürlich sofortiges fahriges Umschalten, trotz meiner kulinarischen Erfahrungen mit Lammfüßen.

Bei der ziellosen Flucht verschlägt es mich auf Phoenix, wo ich jedoch prompt in eine Sendung über misslungene Arktisexpeditionen stolpere und es nicht mehr rechtzeitig vermeiden kann zu sehen, wie ein Forscher einem anderen den verfaulten Fuß absägt.

Zum Glück mümmelte ich gerade kein Eisbein, sondern „Ritter Sport Voll-Nuss“, aber trotzdem. Jedenfalls war das kein Abend, der Fußfetischisten in ihrer Neigung hätte bestätigen können.

Oder gerade.



„Ich such diesen Button nicht!“



Normalerweise gibt es hier nur selbstgefilmte Clips. Heute mal nicht, aus gegebenem Anlass.

Voilà, eine unglaubliche Performance: Pigor ist der Mount St. Helens des HipHop, die Nemesis der Digitalära, der Ikonoklast des Internet, der rasende Berserker im Porzellanladen des Hier und Jetzt – und heute Abend live in Hamburg zu sehen, in Sichtweite der Crackhuren vom Steindamm, nämlich im Polittbüro um 20 Uhr.

Es gibt noch Karten; man sieht sich.


Ergänzung von 23:15 Uhr: Auch morgen und übermorgen ist Pigor noch im Polittbüro am Werkeln. Und es ist g.r.a.n.d.i.o.s., versprochen.

Ohne Worte (63): Kreative Interpunktion



Entdeckt in Passau.


17 November 2009

Heute gehen wir den Dingen mal auf den Grund

Wahrscheinlich gibt es kaum jemanden unter uns, der in den vergangenen Tagen nicht mit einem panischen Kettenbrief behelligt wurde, der praktisch allen gegen Schweinegrippe Geimpften – also auch mir – ein künftiges Siechtum dank Golfkriegssyndrom prophezeiht.

Man fragt sich natürlich schon, was intelligente junge Menschen dazu bringt, sich ungeprüft zum Büttel einer anscheindend paranoiden Ärztin zu machen, die seit Jahren die Welt nervt mit Antiimpfmails und die sogar die Existenz des HI-Virus abstreitet.

Warum verbreiten so viele Leute – darunter auch diverse aus meinem Bekanntenkreis – eine Mail mit Horrorzahlen, ohne vorher auch nur ansatzweise nachzurecherchieren? Offensichtlich ist der Reiz, jedweden abstrusen Grusel glauben zu wollen, größer als das natürliche Bedürfnis der Ratio, seltsam scheinenden Dingen auf den Grund zu gehen.

Ich neige manchmal zum anderen Extrem. Unlängst etwa schrieb mir eine Dame vom Spiegel, und deren Name las sich, als hätte man die Buchstaben eines anderen Namens in einen Würfelbecher gekippt und den dann kräftig geschüttelt: Die Gute heißt Gartred Alfeis.

Das schrie geradezu nach einer amtlichen Anagrammierung, also nahm ich den Wörterwürfelbecher, schüttelte und rüttelte, und das erste und naheliegendste neue Wort, das sich wundersam herausbildete, war ein Männername: Alfred Trageis.

Im Lauf einer höchst spaßigen Viertelstunde offenbarte die gute Gartred auch so hübsche Sachen wie „saftiger Adler“, „Strafgeldarie“, „fader Lagerist“ oder das ökologisch unbedenkliche „radelt gasfrei“. Man darf allerdings auch den unheimlichen und an Hannibal Lecter gemahnenden Komparativ „Alfred ist garer!“ keinesfalls verschweigen.

Manchmal macht es halt einfach Spaß, den Dingen auf den Grund zu gehen. Gerade als Geimpfter
.

PS: Das heutige Foto zeigt übrigens keinesfalls Australien, sondern eine kunstvoll unrenovierte Wand im Restaurant Bullerei.


15 November 2009

An einem ganz normalen Sonntag

Vor der Fischmarktbude steht eine weißhaarige und -häutige Schaufensterpuppe, deren Kopf und Haare sich kaum abheben vom Hintergrund. Ich zücke die Kamera.

„Fünf Euro pro Foto“, scherzt der hinzutretende Budenbesitzer, der gerade am Abbauen ist. „Nur wenn mich die Dame selbst darum bittet“, kontere ich in einem extremst raren Anfall von Schlagfertigkeit, der deshalb auch sofort verbloggt werden muss, um mich hinfort daran zu erinnen, dass ich es wirklich einmal war: schlagfertig.

Jedenfalls komme ich um die fünf Euro herum, denn die Dame bleibt stumm. Im Gegensatz zu diesem schmerbäuchigen Riesen bei Penny an der Reeperbahn, der seine Halbglatze mit kragenlangen fettigen Ringellöckchen zu kompensieren versucht. Er steht in der Kassenschlange und wird von einem alten Graukopf mit Schiebermütze und drei Tetrapacks unterm Arm angesprochen.

Es ist nicht zu hören, was der Alte sagt, doch klar ist: Er möchte angesichts seiner überschaubaren Einkäufe gern vorgelassen werden. Was der schmerbäuchige Riese antwortet, ist drei Schlangen weit zu hören. „Die Antwort ist ein ganz klares Nein!“, schnappt er. Dabei schaut er schräg unter sich. „Ein ganz klares Nein!“

Der Alte murmelt etwas und trottet den Gang hinab, ans Ende der Schlange – vorbei an dem Mittdreißiger mit Bandana und Ziegenbärtchen, der gerade einen unrasierten Mann in seinem Alter anspricht. „Sach ma, kann ich das ma kurz in deinem Wagen zwischenlagärn?“

Umstandslos wuchtet er seine Einkäufe in den Wagen des Fremden, ohne eine Antwort abzuwarten. Der Überrumpelte ist hilflos, denn er telefoniert gerade. Wortfetzen wehen herüber „… Ware angekommen … überprüft … das ist bei der Ware so … kümmer mich drum …“

Pennygeschichten. Solche Dialoge hört man bei Edeka nie. Vor allem nicht innerhalb von drei Minuten.


Die ökoorthografische Katastrophe

Am Hafen, gegenüber vom alten Elbtunnel (Foto), sah ich heute ein Graffito, welches bereits beim ersten Lesen die Dicke des Brettes vorm Kopf seines Verfassers unmittelbar verdeutlichte. Dort stand nämlich:

„25 MRD RAUS FÜR'N UMWELTSCHUTZ ODER BERLIN BRENNT!“

Das erinnert in seiner hirnrissigen Paradoxie an Abtreibungsgegner, die Ärzte umbringen. Beim Brennen, lieber unbekannter Synapsenmissbraucher, entstehen nämlich umweltschädliche Gase in beträchtlicher Menge – selbstverständlich auch und sogar gerade dann, wenn Berlin brennt, eine Stadt von immerhin fast 900 Quadratkilometern Fläche.

Pi mal Daumen genauso schlimm wie dein argumentativer Schuss ins eigene Knie ist jedoch nicht das fehlende Komma vor „oder“, sondern auf jeden Fall der Deppenapostroph in „FÜR’N“. Kurz: Gesamtaussage inklusive Orthografie bedürfen einer dringenden Überarbeitung.

Morgen schau ich mal vorbei und checke das Ergebnis.

13 November 2009

Weisheiten über Partys

(FOTO AUF BITTE DES ABGEBILDETEN ENTFERNT)

Wieder mal ein Abend im Toten Salon. Zum Glück. Denn er lieferte eine der definitiv großartigsten Argumente dafür, eine Party weiter am Laufen zu halten:

„Das Kerzenwachs ist noch nicht trocken.“

Das
Copyright dafür gebührt Salongastgeber Richard Kähler. Der Mann auf dem heutigen Foto indes benötigte solche Ermunterungen nicht, zumal seine Party eher solistischer Natur war.

Ich finde allerdings, wenn man schon an einer Kiezhauptstraße abends im Souterrain kokst, sollte man wenigstens die Gardinen vorziehen.

12 November 2009

Monochrom statt molekular



Gestern Abend wurde ich im Rahmen einer CD-Präsentation von Tim Mälzer bekocht. Natürlich nicht ich alleine, aber auch ich.

Vorher schwor der TV-Koch uns auf die Modalitäten ein: Wer den jeweils als Auftakt eines Ganges servierten
Jelly Shot nicht zu sich nähme, bekäme nichts zu essen. Punkt. „Und wenn trockene Alkoholiker dabei gewesen wären?“, gab Ms. Columbo später zu bedenken, als ich ihr davon erzählte. Tja. Soweit hatte Mälzer wohl nicht gedacht.

Bei einem Wodka Jelly Shot handelt es sich übrigens um eine Art Wackelpudding mit Umdrehungen. Scheußlich, aber knallt. Der erste war grün, weil Mälzer heute nach Farben kochte, und als erster Gang war Zander in Kräuterkruste mit Erbsenpüree dran. Das war alles sehr grün, also musste auch der Shot grün sein. Er schmeckte fern nach Waldmeister, aber darauf kam es nun wirklich nicht an.

Während Mälzer wuselte und kochte, standen wir um ihn herum, reichten ihm Pfannen oder stellten dumme Fragen. Die beantwortete er im Dampfplauderstil, während er ohne hinzusehen in einem Affenzahn Knoblauch oder Schalotten schnitt. Verstohlen musterte ich seine Fingerkuppen. Sie waren seltsamerweise alle noch dran. Oder wieder.

Beim Flambieren eines Carpaccios vom Iberico-Schwein gab er Einblick in die Ausstattung seines Restaurants Bullerei. „Ich habe eine Hightechküche, ich habe alles, ALLES!“, bellte er, „aber das Einzige, was ich bedienen kann, ist der Ofen. Und mein Herd zu Hause kann auch nur heiß werden, aber er kostet 20 000 Euro!“

Zu diesem Zeitpunkt war der zweite Wodka Jelly Shot, ein roter, schon Geschichte, und es drohte ein gelber. Denn inzwischen hatte Mälzer sich pochiertem Kabeljau mit Currysoße, Gewürzbirne und Kumquats zugewandt.

„11 Prozent aller Deutschen sagen, das liebste Tier, das sie auf dem Teller haben, sei Hack“, gluckste Mälzer, und schon stand der rosa Jelly Shot an, denn das geräucherte, gepökelte Rinderfilet auf Rote-Bete-Püree mit Rotweinrauchaalbutter war so pink, wie Floyd niemals waren.

Zwischendurch, das muss Erwähnung finden, sprachen wir übrigens kräftig den Bullerei-Hausweinen zu, die allerdings im Gegensatz zu den gepimpten Wackelpuddingvarianten nur zwei Farbnuancen aufzuweisen hatten.

Inzwischen war Mälzer richtig in Fahrt. „Kobe-Rinder werden massiert, hören klassische Musik und bekommen Bier zu saufen – das ist wie bei mir zu Hause!“, johlte er, während er daran scheiterte, die Kindersicherung am Handmixer zu deaktivieren.

Der letzte Shot (blau) war aus mindestens zwei Gründen kongenial koloriert, und nur einer davon war das Dessert (blaues Schokomus mit Blaubeeren).

Mälzer war übrigens auch schon mal in Spanien, um sich an Ferran Adriàs Molekularküche zu wagen. War aber nix für ihn. „Das ist ganz viel Kokolores. 38 Gänge, und 36 davon hättest du in die Tonne treten können. Mir war wirklich schlecht, ich musste brechen. Aber ich hab’s zweimal runtergeschluckt.“

Das hätte an diesem Abend in der Bullerei höchstens ein weiterer Wodka Jelly Shot schaffen können, doch kurz vor eins gelang mir die Flucht. Grandioser Abend.