16 Juli 2016

Dann lieber Todeszone

Neulich stieß ich auf eine super Argumentation, weshalb die Zweiradapokalypse namens Harley Days für uns St. Paulianer erträglicher sei als der Schlagermove. 

Sie ging ungefähr so: Während Motorräder zugegebenermaßen enervierend laut durchs Viertel öttelten, benähme sich der Rest des Ensembles – also die Leute, die draufsitzen – vergleichweise gesittet. 

Beim Schlagermove hingegen sei die Lautstärke – also so was wie „HOSSA!“ mit der Dezibelzahl einer startenden Northrop Black Widow in fünf Meter Entfernung – leider nur eins der Probleme, und nicht das drängendste.

Neben den Augenkrebs verursachenden ästhetischen Begleiterscheinungen dieser in der Verbrechensgeschichte der Menschheit beispiellosen Veranstaltung bietet sie nämlich eine weitere Eigentümlichkeit, die zweifellos alle anderen Unzumutbarkeiten bei Weitem überbrifft.

Teilnehmer des Schlagermoves neigen nämlich kollektiv dazu, sämtliche verfügbaren Körperöffnungen als jederzeit aktivierbare Auswurfvorrichtungen fehlzudeuten. Und an Körperöffnungen, meine Damen und Herren, gibt es einige; da machen sich anatomisch Minderbewanderte, also Nicht-St.-Paulianer, kaum eine Vorstellung von.

Man könnte natürlich sagen: Passt doch inhaltlich perfekt zu dem, was beim Schlagermove den lieben langen Tag aus den Lautsprechern kommt. In Teilen stimme ich dem auch zu, doch während der sonische Auswurf in jenem Moment St. Pauli verlässt, in dem die Mottowagen ihre Stecker ziehen, kontaminiert der biologische erfahrungsgemäß noch tagelang unsere Gehwege, Grünflächen und Hauswände.

Optisch und olfaktorisch macht das unseren Stadtteil erst mal unbewohnbar. In der Todeszone von Tschernobyl ist es – was das angeht – zweifellos angenehmer.

Apropos: Bietet jemand vielleicht zufällig noch heute eine Mitfahrgelegenheit in die Ukraine? Kontaktdaten bitte in den Kommentaren. Wir zahlen gut! 

PS: Vor Jahren habe ich die beiden zweifellos von Psychopathenhirnen erfundenen Veranstaltungen aus der Vorhölle gemeinsam mit Ms. Columbo schon einmal gegeneinander abgewogen, bin also letztlich zu meiner eigenen Überraschung selbst der Urheber der oben geschilderten Argumentation. Den Beweis finden Sie hier.   






13 Juli 2016

Unter muss rein


Mannigfaltigster Natur sind die Arten und Weisen, wie man einem Franken versehentlich zu nahe treten kann.

Zum Beispiel reagiert er höchst unwirsch, wenn man mit einem kapitalen Lachkrampf zusammenbricht, weil er einen ursprünglich hartgesottenen Konsonanten so ausspricht, als wäre der ein Pfund Butter in der Mittagssonne am Äquator („Dang-ge“).

Ich hingegen bleibe selbst dann, wenn es in der Folge im Zwischenmenschlichen gewittert, stets wirsch. Schon aus Eigenschutz: Schließlich sollte man es tunlichst vermeiden, einem aus fränkischem Mutterboden fehlgesprossenen Echauffator weitere Eskalationsgründe zu liefern.

Manchmal aber gießt man Öl ins Feuer, ohne es zu wollen. Mit zum Schlimmsten, was man diesem eigenwilligen Menschenschlag antun kann, gehört zum Beispiel die Benennung des Franken als „Franken“.

„Ich bin Unterfranke!“, knurrt der Franke dann gewöhnlich mit schneidender Unnachgiebigkeit, als hätte ihn diese fehlende Spezifizierung wirklich getroffen. Aber das hat sie ja auch.

Wenn etwa wieder mal ein Serienkiller oder Amokläufer durch sein Heimatland marodiert und ich ihm das mit freundlichstem Lächeln – also wirsch – vorhalte, dann schaut er sich die Sache in der Regel kurz an und blafft dann: „Der Tüb ist Middelfrang-ge! Wir haben nicht mal die gleiche Schbraache!“

Um Außenstehende vollends zu verwirren, gibt es übrigens auch Oberfranken. Dass daraus möglicherweise eine für ihn wenig schmeichelhafte Hierarchie des Frankentums abzuleiten sei, streitet der Franke – Verzeihung: der Unterfranke – indes mit Verve ab. Im Gegenteil: Er scheint sich und seinesgleichen für geradezu gebenedeit unter den Frankenvölkern zu halten.

Bei der noch zu erstellenden, dann aber stark erweiterten und refurbishten Neufassung der „Frankensaga“ sehe ich mich jedenfalls mehr oder weniger gezwungen, dieses Unter irgendwie, irgendwo unterzubringen.

Im Vorwort reicht, oder?

PS: Ein weniger treffendes Symbolbild war wahrscheinlich noch nie. Na ja, immerhin sind die Nudelsmileys, die ich vorm Haus entdeckte, ziemlich wirsch drauf.


 

 
 
 

12 Juli 2016

Die gemütlichsten Ecken von St. Pauli (102)



Anscheinend experimentiert momentan jeder mit der Prisma-App herum.

Ich auch – und muss feststellen, dass St. Pauli selbst auf meinen mittelmäßigen Fotos plötzlich toll aussieht, wenn man sie durch die verschiedene Kunstepochen repräsentierenden Prisma-Verfremdungseffekte jagt.

Demnächst mache ich das auch mal mit den vielen abgeranzten Hauseingängen, die ich hier im Viertel immer wieder wie ferngesteuert ablichten muss.

(Oder lieber nicht: Das würde bestimmt die nächste Generation gewissenloser Gentrifizierer herlocken.)


10 Juli 2016

Auf Abenteuerurlaub in Schwerin

Wetterseiten im Web sind grundsätzlich eine feine Sache. Allerdings vermögen sie die Vorfreude auf eine Reise nicht unwesentlich zu trüben.

Für die Premiere der Schweriner Schlossfestspiele – man hatte „Aida“ einstudiert – verhieß wetter.de seit Tagen mit durchaus hämisch durchwirkter Prognosesicherheit Regen, Wind und, pünktlich zum Anpfiff, gar Gewitter.

Ms. Columbo packte deswegen vorsorglich Regencapes ein, die sich beim in der Tat notwendigen Überziehen vor Ort indes als wenig kleidsam erwiesen. Ihr Modell überzeugte wenigstens durch Transparenz, wollte also gar nicht in Konkurrenz treten zur Kleidung darunter; meins aber war in seinem peinlich leuchtenden Blau nichts weiter als ein Müllsack mit Löchern drin. 

Es gibt eine fotografische Dokumentation dieser Lachnummer, für deren Herausgabe man mich allerdings schon Trump’schen Befragungsmethoden unterziehen müsste. Also versuchen Sie es erst gar nicht, danke.

Stattdessen zeige ich hier gern die beeindruckende Sanktionsliste her, mit der unsere Unterkunft, das empfehlenswerte Café Karina in der Werderstraße, all jene bedroht, die sich trotz Verbots erdreisten, heimlich im Zimmer eine durchzuziehen:

Auf Twitter habe ich gestern bereits vorgeschlagen, doch lieber diese AGB aus der Hölle auf Zigarettenpackungen zu drucken statt der sogenannten Schockfotos, die jedem, der auch nur eine einzige Folge „The Walking Dead“ gesehen hat, beim routinierten Zünden seines Zippos nur ein Gähnen entlocken.

Aber Auslöser zu sein für den Einsatz von Spezialreinigern und Zwangsumsiedlungen unbescholtener Mitbewohner: Das schockt wirklich. Wir haben jedenfalls lieber nicht geraucht, ich schwör!

Auch während der „Aida“-Premiere wäre das nicht möglich gewesen, dazu war es einfach rundum zu nass. Wir hatten wenigstens unsere Regencapes, die auf der Bühne Agierenden allerdings waren schutzlos den Naturgewalten ausgesetzt; manche hatten sich unter der unbekümmerten Regie von Georg Rootering gar in den munter wachsenden Pfützen zu wälzen.

Nur das von wetter.de seit Tagen versprochene Gewitter hätte das Ensemble erlöst. Doch der sardonisch gießende Wettergott hielt lieber alles in der Schwebe, sodass niemand entkommen konnte – wahrscheinlich eine kleine, feine Rache am mehrheitlich noch immer atheistischen Osten.

Wenn Sie also zu denen gehören, die sich gern die Lunge bräunen und zudem Abenteuerurlaube schätzen: Buchen Sie einfach „Aida“-Karten in Schwerin – vor allem aber ein Zimmer im Café Karina. 

Und dann tun Sie, was Sie tun müssen.




06 Juli 2016

„Blödmann!“

Der Franke ist zwar der weltweit größte FC-Bayern-Fan von ganz Eimsbüttel, hat aber gleichwohl schon Planungsfehler in Dimensionen gemacht, dass du dir an den Kopf fasst.

Einmal saß er während eines Champions-League-K.O.-Spiels im Flugzeug, ein andermal im Zug und einmal auf einer italienischen Halbinsel fest. Erst mal munter terminieren und am Ende feststellen: Da war doch was, nämlich ein Bayern-Spiel – so ist er, der Franke.

Am vergangenen Samstag aber toppte er all dies auf eine Weise, welche die Historie seines Fehlverhaltens augenblicks pulverisierte. Völlig arglos und ohne Blick in den Kalender hatte er sich vor Wochen von seiner Freundin zu einem Wochenende in Stettin beschwatzen lassen, wo er in eine Tanztheatervorführung unter offenem Himmel verschleppt werden sollte.

Auf all das ließ er sich bereitwilligst ein – ohne zu bedenken, dass ein Europameisterschaftsviertelfinale des deutschen Teams, dem er auf ähnlich hündische Weise zugeneigt ist wie dem FC Bayern, parallel vonstatten gehen sollte.

Als ihm das Dilemma dämmerte, blieb ihm nur noch lautes Wehklagen und Haareraufen (wozu er, wie ich neidvoll zugestehen muss, wenigstens noch in der Lage ist) – und der Auftrag an mich, ihn live per SMS auf dem Laufenden zu halten.

Nun, dies geschah auch: 


Dankbarkeit sieht anders aus, wie ich als Hesse finde. Je nun. So ging es weiter: 


Aus seiner schmallippigen Antwort vermochte ich unschwer eine gewisse Frustration zu destillieren, doch das fand ich eher ermunternd. Schließlich war er drauf und dran, eins der dramatischsten Duelle zwischen Deutschland und Italien zu versäumen – irgendwo im Nirgendwo und wahrscheinlich im Angesicht von Männern in Strumpfhosen. Kein Grund, nicht Öl ins Feuer zu gießen: 


Inzwischen aber verspürte ich nicht nur eine verdammte Chronistenpflicht – manchmal muss ein Mann tun, was ein Mann tun muss –, sondern auch das Bedürfnis, seine ausweglose Lage nicht auch noch durch Süffisanz zu verschärfen. Na ja, ein bisschen zumindest.

Denn mittlerweile war der arme, in der polnischen Diaspora gefangene Franke, wie ich später erfuhr, bereits zwangsversetzt worden, da mein ständiges Simsen nicht nur seine Freundin kirre machte, sondern wohl auch die ganze Tanztheaterveranstaltung in Gefahr brachte. Den Männern in Strumpfhosen wär’s wahrscheinlich recht gewesen: Dann hätten sie die Verlängerung vielleicht noch in der Theaterkneipe mitgekriegt.

Verlängerung also. Und nicht nur das: auch noch Elfmeterschießen. Das Drama aller Dramen, und der Franke sitzt blind und taub in einem Amphitheater in Westpommern. Aber er hat ja mich und meine SMS. 



Gut, die letzte war ein Rückfall ins Sarkastische, sie bohrte in einer tiefen, tiefen Frankenwunde, die sich hienieden nie mehr schließen lassen wird, aber verdammt: Ich bin auch nur ein Mensch. Einer mit Schwächen.

Und er ist ja selber schuld. Das Desaster, in das er fern der Heimat geriet, kann man nicht mal mit einem Anfängerfehler entschuldigen – die oben geschilderten Beispiele verpasster oder nur unzulänglich verfolgter, aber definitiv unverpassbarer Spiele zeigen das überdeutlich. Der Franke kompensierte das zu diesem Zeitpunkt aus reinem Selbstschutz längst mit einer Prise Fatalismus: 


Als alles vorbei war, das Drama, die Euphorie, die Erledigung des Italientraumas – also all das, an das man sich als Fußballfan ewig erinnern wird (sofern man es gesehen hat …) –, habe ich ihm weitere SMS-Dienste angeboten.

Zum Beispiel im Halbfinale, während er wahrscheinlich rituellen Fruchtbarkeitstänzen aus Nordostsibirien beiwohnt. Oder beim Endspiel (Achtsamkeitsworkshop in Worpswede).

Komisch, dass er darauf noch gar nicht geantwortet hat.