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17 Oktober 2015

Bedingungslos lydonsfähig



Gestern Abend traf ich erstmals den Mann, der mir mit 17 das Leben gerettet hat. Na gut, er hat es mir damals zumindest enorm erleichtert. Und ich traf ihn auch nicht persönlich, sondern befand mich nur mit ihm in einem Raum, gemeinsam mit ein paar Hundert anderen. Aber immerhin.

Verdammt, ich war am selben Ort auf diesem Planeten mit JOHNNY ROTTEN!

Seit dem Ende der Sex Pistols heißt er wieder bürgerlich John Lydon, aber was macht das schon? Für mich wird Johnny immer Rotten bleiben – also der Mann, der mir einst das Leben rettete. Na gut, fast.

Damals war ich ein Teenager vom Dorf, der nach der Mittleren Reife unter Fremdeinfluss (Eltern!) den Fehler seines Lebens begangen und eine Lehre bei der Sparkasse angefangen hatte. Morgens um 8 musste ich antanzen, in Anzug und Krawatte, das war schon schlimm genug für einen 17-Jährigen, dessen Freunde sich gerade die Haare wachsen ließen. Und dann noch die Verarsche durch ein sadistisches Kollegenensemble – wie man’s halt so macht mit Azubis vom Dorf.

Nachmittags kam ich fertig nach Hause und schob den Rest des Abends Horror vorm nächsten Tag. Bis diese Platte erschien: „Never mind the Bollocks, Here’s the Sex Pistols“. Ich hatte in der damals coolsten Musikpostille Sounds die Kritik gelesen und rannte bei nächster Gelegenheit in den Plattenladen. Shit, die LP war jeden Pfennig des Azubigehaltes wert!

Der Sänger, ein (wie ich aus der Sounds wusste) dürrer Typ mit irre aufgerissenen Augen und einem Grinsen von triefender Verachtung, kreischte hysterisch, dazu verprügelte irgendjemand Saiteninstrumente und Drums, alles explodierte …

Diese hyperventilierenden Schreihälse aus England taten also genau das Gegenteil von dem, was ich tagtäglich tat. Was ich tagtäglich tun musste. Ihre Hemmungslosigkeit lag exakt am unerreichbaren anderen Ende der Skala meiner sparkassenbedingt immens eingeschränkten Handlungsoptionen. „Never mind the Bollocks“ war eine radikale Utopie. Aber eine greifbare: Sie kreiste mit 33,33 Umdrehungen auf dem Plattenteller und veränderte die Welt.

Ich liebte diese Platte. Abends hieß es: Schlips in die Ecke und „Holidays in the Sun“ auf Lautstärkelevel 10. „No feelings“ bis zum Kollaps. Stress relief vom Allerlautesten. Die Wände meines Jungszimmers wackelten unter der Urgewalt der Sex Pistols, das ganze Haus vibrierte.

„God save the Queen“, geiferte Johnny höhnisch, „she ain’t no human being“, und diese Einschätzung schien mir auch eine außergewöhnlich treffsichere Beschreibung meines Filialleiters zu sein.

Bis plötzlich alles erstarb.
Meine Mutter hatte oben die Sicherung rausgedreht.
Fuck!

Später halfen mir auch Nick Drake und Joy Division durch die alles überwölbende Tristesse der Sparkassenjahre, doch die kathartische Kraft von „Never mind the Bollocks“ blieb unerreicht. Johnny Rotten, diese an beiden Enden brennende menschliche Fackel der entfesselten Aggression, war die monumentgewordene Antithese. Das habe ich ihm nie vergessen. 

Und gestern, Jahrzehnte später, war ich erstmals in meinem Leben mit ihm in einem Raum. Er spielte mit seiner Band PiL im Berliner Columbia Theater. John Lydon trug ein schwarzes Kurzarmhemd und wirkte darin ziemlich stämmig. Statt hysterisch zu kreischen, verfeinert er inzwischen eine selbst entwickelte Technik des Jaulens und Heulens.

Manchmal hob John wie segnend die Arme (die Karikatur eines Papstes des Punk!), und manchmal musste er die Brille (!) abnehmen, um die auf einem Stehpult parat liegenden Songtexte lesen zu können. Auch an ihm, dem Helden meines Jungszimmers, sind die Jahre eben nicht spurlos vorübergegangen. Noch etwas, was uns beide verbindet – und was mich, wenn Sie mir diesen Kalauer verzeihen, weiterhin bedingungslos lydonsfähig macht.

Neben mir stand eine junge Asiatin mit streichholzdünnen Beinen, vielleicht 18 oder 19, und als John „This is not a love song“ jaulte und heulte, sang sie jede Silbe mit. Das trieb mir endgültig die Tränen in die Augen. Na ja, fast.

Wenn Sie das lesen und gerade die Mittlere Reife in der Tasche haben: Bitte hängen Sie das Abi hinten dran. Studieren Sie. Aber machen Sie unter keinen Umständen eine Sparkassenlehre! 

Denn keiner kann Ihnen garantieren, dass wieder zufällig ein Johnny Rotten zur Hand ist, um Sie mit einer einzigen Platte aus den Händen jener zu befreien, die keine menschlichen Wesen sind.




27 März 2014

Wenn Leslie mit dem Schnauzer wackelt

Nach dem Tod von Walross Antje († 17. Juli 2003) avancierte Leslie Mandoki (m.) zum weltweit bedeutendsten Schnauzbartträger von ganz Hamburg – wobei ich mir gar nicht sicher bin, ob er überhaupt in Hamburg wohnt. 

Heute jedenfalls traf ich den Dschingis Khan des Schlagerpops in Berlin, und zwar bei einer Echo-Party auf der Dachterrasse des Europa-Centers. Ich musste unwillkürlich an „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ denken, weil Christiane F. sich mit ihrem Freund gern hier oben traf – zwei Teeniejunkies, ausgerechnet bewacht vom Symbol der Bürgerlichkeit schlechthin, dem Mercedes-Stern. 

Auf der heutigen Echo-Party hatte ich übrigens weder Walross Antje noch Leslie Mandoki entgegengefiebert, sondern vorwiegend dem möglichen Eintreffen der blonden Latinbombe Shakira. Indes kam doch nur Tim Bendzko und nahm Goldene Schallplatten mit. 

Noch vor wenigen Jahren hätte Bendzko für seine Erfolge nur genau halb so viele Goldene Schallplatten bekommen. Weil die Labels es aber einfach nicht mehr mitansehen konnten, wie wenige sie dank Ihrer (ja, ich meine Sie!)  illegalen Downloads nur noch vergeben konnten, haben sie die Anforderungen einfach halbiert. Alle sind dadurch wieder viel glücklicher.

Über solche Tricksereien kann ein altgedientes Walross wie Leslie Mandoki freilich nur verächtlich mit dem Schnauzer wackeln. Seine Goldenen Schallplatten waren damals alle noch richtige – und keine halben Sachen.

Darauf ein dreifaches „Hey! Ho!“

16 Juni 2013

Vorsicht ist die Mutter der Bierkiste


 

Die Sommerbühne in der Ufafabrik ist der weltweit schönste Konzertort von ganz Berlin, nicht nur wegen der von einem Zeltdach heimelig überwölbten Stuhlreihen, sondern auch dank der begrünten Terrassen, die von Stehtischen gesprenkelt sanft Richtung Tresen ansteigen.

Wenn man dort an der Bar ein Getränk kauft, erhält man zusätzklich eine Plastikpfandmarke. Gedankenlos steckte ich sie ein, ehe mir das Pleonastische daran aufging.

Würde es eigentlich nicht völlig reichen, fragte ich mich auf dem Weg zurück zu Ashras schwebendem Sequenzerteppich, wenn man einfach Pfand auf Gläser und Flaschen einbehielte und ihn bei Rückgabe derselben wieder aushändigte – warum zusätzlich auch noch Pfandmarken?

Genau diese drängende Frage stellte ich auch dem Tresenmann bei der nächsten Bestellung. „Weil“, sagte er, „sonst die Leute mit ihren alten Gläsern ankämen. Oder mit einer leeren Kiste Jever.“

Diese Erklärung überzeugte mich sofort. Und sie informierte zudem beiläufig über eine gewisse hinterfotzige Pfiffigkeit des Berliner Publikums, welche eine solche Maßnahme anscheinend notwendig macht.

Jedenfalls wieder mal ein sehr lehrreicher Besuch in der weltweit besten Bundeshauptstadt unserer Republik.


22 Juni 2012

Pareidolie (46)



Da steht man arglos an Gleis 8 des Berliner Hauptbahnhofs (tief) und wird plötzlich blöde von der Wand angestarrt. Kein Wunder, dass man da in den nächstbesten ICE einsteigt.

Vor allem, wenn er nach Hamburg fährt.

PS: Eine ganze Pareidoliegalerie gibt es bei der Pareidolie-Tante.


09 Juni 2012

Nicht (gut) fürn Arsch



Ein Wochenende in Berlin. Dr. K., immer für originelle Vorschläge gut, regt eine Tandemfahrt durch Kreuz- und Schöneberg an.

Zunächst müssen wir zwei Sechsjährige auf einem Kindergeburtstag abliefern und packen sie in den Anhänger. „Ihr werdet wirken wie ein schwules Paar mit Adoptivkindern“, schmunzelt Frau Dr. K. But so what?

Das pseudoschwule Pseudotandemfamilienidyll scheitert allerdings schon nach wenigen Kilometern an einem kapitalen Nagel, der den rechten Anhängerreifen zerfetzt und uns zum Laufen zwingt. Wir liefern die Mädchen ab, lassen den invaliden Anhänger an eine Stange gekettet zurück und radeln weiter.

Tandemfahren ist für Novizen etwas gewöhnungsbedürftig, auch als Beifahrer. Wenn ich mich auf den starren Handgriffen abstütze, sehe ich von der Gegend kaum mehr als den breiten Rücken eines Solarforschers. Und wenn ich mich zwecks besserer Aussicht freihändig aufrichte, leidet recht bald der Glutaeus maximus unter unschönen Verschleißerscheinungen.

Die Lösung: häufige Pausen. Espressotrinken. Eisessen. Über Flohmärkte schlendern. Auf einem davon die ersten beiden „Seinfeld“-Staffeln für 2,50 € erwischen und aus lauter schlechtem Schnäppchengewissen 50 Cent Trinkgeld drauflegen.

Nachts sitzen wir auf dem Balkon und sehen träge ein Ufo über den Himmel ziehen, während sich in der Ferne der Mercedesstern auf dem Europacenter dreht wie immer seit „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“.

Von drei Solarlampen in den Blumenkästen funktioniert nur eine – was wir beide als untolerables Manko im Haushalt eines Solarforschers einstufen. Mir tut dafür der Hintern weh. Ein Tribut ans Tandem. Ein lohnenswertes.

30 Januar 2012

Wie mir eine schöne Frau den Abend rettete



Von mittags um zwei bis abends um 17:30 Uhr bei minus sechs Grad im Berliner Olympiastadion auszuharren: Das ist schon mal ein höchst zweifelhaftes Vergnügen. Dabei auch noch den HSV gewinnen zu sehen kann einem das ganze Wochenende verderben.

Zum Glück war ich danach mit einem Freund aus Studienzeiten unterwegs, der als Übersetzer arbeitet und mir nach einem Andechser Dunkel mit einer leicht chauvinistisch unterfütterten Allegorie den Abend versüßte:

„Eine Übersetzung ist wie eine Frau“, sprach er, „wenn sie schön ist, ist sie nicht treu; und wenn sie treu ist, ist sie nicht schön.“

Beim Hören dieser weisen Worte verblasste die eisige Erinnerung an Herthas Betonwanne sofort. Nur nicht die an den HSV-Sieg.

Aber man kann nicht alles haben.


10 August 2010

Altes Geld



Eine junge Berliner Kollegin, die ich bei einem Einladungskonzert mit vorgeschaltetem Fernsehkochdinner treffe, erzählt mir beim Essen von den ganzen Trendläden, die sie unablässig abgrast in der armen sexy Stadt.

Hier eine schicke Butike, da ein Sushiladen (der aus irgendeinem bescheuert coolen Grund „Cantina“ heißt), drüben in Neukölln-Nord der Szeneclub Kinski. Alles super jedenfalls, alles obertrendy, alles Geheimtipps.

Und während sie das erzählt, fällt mir ihr olivgrünes T-Shirt ins Auge. In großen eierschalenfarbenen Brüllbuchstaben steht da „REVOLUTION“ drauf, und rechts oben über dem Schriftzug prangt ein Kreis mit umgekehrtem Ypsilon drin, das Friedenszeichen. Wahrscheinlich hat sie das Shirt in einer schicken Butike gekauft, zwischen Sashimi in der Cantina und einer Kirschsaftschorle im Kinski.

Ich weiß nicht, ob Karl Marx einst an Leute wie die Berliner Kollegin dachte, als er die Proletarier aller Länder zur Revolution aufrief, aber ich glaube fast nicht. Hamburg, sagt sie irgendwann, sei tot, dort habe sie mal gelebt, aber das könne sie nicht mehr, sogar Daniel Richter sei ja jetzt nach Berlin gegangen, in Hamburg nämlich „sitzt das alte Geld.“

Aber einen hübschen Funkturm haben wir, vor allem vom Innenhof des Fernsehkochrestaurants aus gesehen.

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26 März 2010

Ein Tag von spätrömischer Dekadenz



Das erste, was mir am Mittwochabend in Berlin widerfuhr, als ich am Bahnhof Zoo auf den Bus wartete, war ein Mann mit Kapuzenjacke, der seine Flasche Rotwein aufs Pflaster stellte, um beidhändig sein Gemächt hervorholen und dann unter die Wartebänke schiffen zu können.

Während die Schweinerei da so vernehmlich hinpladderte, erwog ich einen Moment lang, ihn zur Rede zu stellen (Männer mit ihrem Gemächt in den Händen sind relativ wehrlos), doch dann dachte ich: Ach, lass die Berliner doch ihren Scheiß alleine erledigen. Tat aber keiner.

Abends ging es dann mit Dr. K. in die o2-World-Arena zu Peter Gabriel, der sein rein orchestral arrangiertes Coveralbum „Scratch my back“ aufführte. „Er fängt bestimmt mit ,Heroes’ an“, prophezeihte Dr. K., und noch während meiner stichhaltig vorgebrachten Argumente gegen diese Theorie fing Gabriel an, „Heroes“ zu singen, weshalb das erste Wort (jenes solitäre „I“) auch nicht drauf ist auf meinem Clip.



In der zweiten Hälfte des Konzertes spielte Gabriel dann seine eigenen Stücke. Bei „Solsbury hill“ tanzte er sogar ausgelassen, als wäre er nicht 60, sondern keinen Tag älter als 59, während das New Blood Orchestra zum großen Finale ein Beethoven-Zitat einstreute („Freude schöner Götterfunken“) – und das war zweifelsohne ein angemessenes Präludium für das, was nachts geschehen solllte.

Zu Hause nämlich führten Dr. K. und ich uns auf rituell überhöhte Weise meine vor fünf Jahren hier im Blog schon einmal erwähnte Flasche 1999er Chateau d’Yquem zu, was den Abend adäquat abrundete.

Wir fühlten uns dabei spätrömisch dekadent, und was soll ich sagen, Westerwelle: Das macht Spaß. Sollten Sie mal ausprobieren.

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09 November 2009

Mein Mauerbröckchen



Voilà: das schönste Stück von meinen sieben Bröckchen Berliner Mauer, die ich einst persönlich vor Ort einsammelte.

Seit 1989 gingen diese historischen Artefakte bei mittlerweile vier Umzügen nie verloren, obwohl sie durchweg nur lose herumlagen, meist am Rand irgendeines Regalbretts.

Das hat bestimmt etwas zu bedeuten, etwas Wichtiges. Aber ich komme gerade nicht drauf.

Bei Ebay, das habe ich gecheckt, brächte so ein Bröckchen keine zehn Euro; selbst mit Echtheitszertifikat wäre da kaum mehr rauszuholen. Das ist enttäuschend und hat bestimmt auch irgendetwas zu bedeuten, etwas Wichtiges.

Zum Tag der Deutschen Einheit erzähle ich vielleicht die Geschichte, wie ich mal aus purer Dummheit von der Stasi verhört wurde.



26 April 2009

Schöneberger Nächte sind lang



Ein Konzert von Antony & The Johnsons (Foto) ist ohne Zweifel das Sakralste, was man als Agnostiker erleben kann – vielleicht gerade deshalb, weil Antony alle Sünden verkörpert, welche das Christentum besonders verdammt: Promiskuität, homosexuelle Liebe, Verwischung der Geschlechter.

Dafür kann man auch schon mal extra nach Berlin fahren, in den Admiralspalast. Wir sitzen auf dem Balkon. Zwei Reihen vor uns streitet sich Herbert Grönemeyer im Stehen mit einer blonden Frau, die aussieht wie Nina Hoss und es wahrscheinlich auch ist.

Es geht hin und her, am Ende scheinen sie sich zu einigen und sitzen schließlich friedlich in einer Reihe, wenn auch nicht nebeneinander. Vielleicht ging es einfach nur darum, wer die Getränke holen sollte. Wenn ja, dann hat Hoss gewonnen.

Nach dem Konzert versacken Dr. K., Xóchil und ich in einer langen Schöneberger Nacht, und ich frage mich, ob es für eine Künstlerin wirklich eine angemessene Art ist, den Tag, an dem ihr langersehntes Debütalbum erscheint, mit zwei haarlosen bebrillten Endvierzigern zu verbringen, die ihr von gestörten Vater(bzw. Mutter-)beziehungen und der säkularen Gottesdefinition in Kubricks „2001 – Odyssee im Weltraum“ erzählen.

Immerhin lief sie nicht schreiend davon, und das auch erst um drei Uhr morgens.


22 Februar 2009

Unter Trophäenblondinen



Echo-Aftershowparty. Hier lässt die untergehende Musikbranche noch mal alles raushängen, was sie eigentlich nicht mehr hat.

4000 Gäste im Berliner Postbahnhof, und jeder von ihnen könnte ein Star sein – oder bloß ein Schreiberling wie ich. Alles ist möglich, alles denkbar, alles ist vollkommen unsicher.

Die Gäste mustern sich verstohlen. Kenne ich den neben mir an der Dessertbar persönlich oder doch nur aus dem Fernsehen? Und wenn ja: aus welcher Sendung? Welchem Film/Clip/Dschungelcamp? Ist der, er mich gerade angerempelt hat, ein FDP-Generalsekretär oder ein lustiger Volksmutant? Man weiß es (oft) nicht.

Eines aber stellt sich schnell heraus: 2009 sind immer noch oder schon wieder Trophäenblondinen angesagt. Je unansehnlicher/älter/schmerbäuchiger der Star/Plattenboss/Bandmanager, desto 90/60/90er das hellhaarige Babe an seiner Seite.

Und das Babe lächelt beseelt. Warum auch nicht: Es hat schließlich einen fetten Fisch geangelt. Jetzt darf es auf Partys mit 4000 Leuten und wird verstohlen gemustert, weil man es ja aus dem Fernsehen kennen könnte.

Der Typ am Sushibuffet, der mich von hinten fragt: „Ist das frisch?“, sieht aus wie Max Mutzke, und wahrscheinlich ist er es auch. Er sieht erbarmungswürdig hungrig aus, er will ein „Ja“ hören, und er kriegt ein „Ja“.

Hoffentlich habe ich jetzt nicht seine Karriere beendet, denn er kann ja singen, der Mutzke, das kann er wirklich. Ein dicker Klempner aus England fotografiert das sensationelle Dekolletee seiner noch dickeren Gattin. Vorhin stand er noch auf der Echo-Bühne und gab an, ein gewisser Paul Potts zu sein und eine Million Alben verkauft zu haben.

Mit dieser Quote bist du ein Star in der Musikbranche, du könntest dir eine beliebige 90/60/90er Trophäenblondine aus dem Sortiment auswählen. Nur wem sie wegnehmen – Dieter Gorny? Christian Neander?

Ach, das Leben ist kompliziert auf der Echo-Aftershowparty. Die beste Beschäftigung ist deshalb verstohlenes Mustern, während man Sushi möfelt und mittelmäßigen Weißwein von Gallo trinkt, dessen Mittelmäßigkeit man ihm niemals vorwerfen würde, denn er ist ja kostenlos.

Auch den abgebildeten Herrn mit der komischen Tätowierung habe ich ausgiebig gemustert und bin sicher, ihn schon mal irgendwo gesehen zu haben.

Aber ich weiß einfach nicht, wo ich ihn hinstecken soll.


06 Februar 2009

Der Euro ist uns zu neumodisch



In Hohenschönhausen im Osten Berlins hat man die Währungsumstellung noch nicht mitbekommen.

Wahrscheinlich war ihnen das einfach zu viel, zum zweiten Mal nach 89 mit so ’nem Quatsch konfrontiert zu werden.

Andererseits: „Centwelt“ klänge echt dämlich.



05 Februar 2009

Galgenhumor bei der Bahn

Wie man weiß, hat die Deutsche Bahn mindestens 173 000 Mitarbeiter samt Angehörige überwachen lassen. Wahrscheinlich waren es sogar alle, also ungefähr eine Viertelmillion.

Somit auch die Zugbegleiterin, die heute auf der Fahrt nach Berlin meine Fahrkarte kontrollierte. Die gute Frau war darob bester Stimmung, und es entspann sich folgender Dialog.

Zugbegleiterin: „So, Herr … (mustert meine Bahncard) … Wagner, dann wollen wir das mal alles überprüfen.“
Matt: „Tja, muss wohl sein.“
Zugbegleiterin (süffisant): „Sie werden jetzt komplett durchleuchtet.“
Matt
(schlagfertig): „Und dann gehen die Daten direkt an Schäuble, nicht wahr?“
Zugbegleiterin: „Genau. Und alles wird zehn Jahre lang gespeichert.“
Matt: „Angemessen.“
Zugbegleiterin: „Ja, dann wissen wir immer, wo Sie hingefahren sind.“

Wie man sieht, hat sich Bahnboss Mehdorns Stasimaßnahme enorm motivierend auf seine Schäfchen ausgewirkt.

Und ich muss sagen: Sarkasmus passt perfekt zu blauen Uniformen.



16 November 2008

Sieg für Berlin



Berlin, Olympiastadion, Hertha BSC gegen den Hamburger SV.

Mir fällt auf, dass der tausendfach verstärkte Schlachtruf „SIEG!!!“ ein gewisses Geschmäckle bekommt, wenn er ausgerechnet dort skandiert wird, wo sich 1936 ein gewisser Führer über die Goldmedaillen des schwarzen US-Läufers Jesse Owens ärgerte.

Nach dem Spiel, auf dem Weg zur U-Bahn, laufen wir an zwei streitenden Parteien vorbei. Ein Berliner Brocken in Bomberjacke will einer Gruppe um einen rotwangigen Hamburger Bubi an den Kragen, wird aber von seinem Kumpel mit unmittelbarer körperlicher Gewalt daran gehindert.

Da er seinem Kumpel nicht wehtun will, entscheidet sich der Bomberjackenberliner alternativ für die verbale Attacke. „IHR JUDEN!“, brüllt er den Hamburgern hinterher.

Ja, immer wieder schön in der Hauptstadt.


24 September 2006

Tortour mit Intermezzo


In den letzten 48 Stunden verbesserte sich meine Konzertstatistik im gleichen Maße, wie sich meine körperliche Verfassung verschlechterte.

Am Donnerstag in Berlin begann die Live(tor)tour mit
Shawn Colvin, Fionn Regan und Maximilian Hecker, ehe es in Hamburg ab Freitag beim Reeperbahnfestival weiterging mit The Rifles, Kajak, Minor Majority, Maplewood, Nerina Pallot, Paolo Nutini, The On Offs, Dominic Miller sowie Epo 555.

Samstagnachmittag lief ich zur Auflockerung auch noch bei der offiziellen
Beatlestour mit, die Stadtteilführerin Stefanie Hempel mit enthusiastischem Dauerlächeln moderierte. Wie ernst sie ihren Job nimmt, zeigten die Intermezzi. Zur Ukulele (und Verwunderung der Touristen) schmetterte die Musikerin illustrativ Beatlessongs über den Kiez.

Während der Führung begleitete uns ein Kamerateam von Tide TV; und das hatte vor allem am Ende richtig was zu filmen. Denn auf dem Gelände des alten Star Clubs in der Großen Freiheit saßen ein paar saufende britische Kleiderschränke mit Glatzen herum, die Stefanies formidable „Twist and shout“-Fassung um euphorisches Mitgrölen bereicherten. Riesenbeifall am Ende, für Stefanie und die Engländer.


Am Mittwoch soll das Ganze auf Tide TV laufen; hier gibt es vorab schon mal Stefanies liebenswerte Fassung von „In my life“.

23 September 2006

Der Bucklige

Auf Dienstreise in Berlin, Popkomm. Einer, den man mit Fug und Recht als Männchen bezeichnen kann, streunt am Busbahnhof Zoo herum. Er hat einen unfassbar horizontalen Buckel, auf dem man mühelos ein Tablett abstellen könnte. Und er ist alt. Seine Haare sind grau, er trägt schlammfarbene Hosen samt Träger, die in den 40ern mal en vogue gewesen sein müssen. Und jetzt stellt er sich frontal vor mich. Abstand: halber Meter.

Er mustert mich aufmerksam, sein trauriger dunkelbrauner Blick wandert von meinen Augen hinunter Richtung Nabel, wo mein Popkomm-Ausweis im Spätsommerwind baumelt. Ich nehme die Situation als Bewährungsprobe. Einfach so tun, als sei er nicht da. Einfach mal sehen, wie cool ich sein kann, ob ich diese Verletzung der sozialen Distanz aushalte und wie lange. Mal testen, wer zuerst zuckt.

Mir fällt das allerdings schwer, ehrlich gesagt. Mein wie zufällig über Busse und Bäume wandernder Blick wirkt sicherlich auf bemühte Weise unbeteiligt; manchmal schaue ich ihn auch direkt an, um Lockerheit auszustrahlen, die ich gleichwohl nur spiele. Denn das Männchen steht unmittelbar vor mir, und das macht man nicht, zumindest dann nicht, wenn man nichts zu sagen, sondern nur zu gucken hat.

Und zu gucken hat es offenbar viel. Inzwischen ruht sein Blick starr auf meinem Bauch, ganz kurz nur zuckt er manchmal musternd hoch und sucht meine Augen. Was will der Mann? Was fasziniert ihn so?

Natürlich sind das Fragen, die früher oder später aus mir herausbrechen werden; lange halte ich die Situation nämlich nicht mehr durch, die ich mir vorschnell als Selbsttest auferlegt habe. Aber jetzt, jetzt sagt er was. Es ist eine Frage, und sie lautet: „Ist das dein Gestapo-Ausweis?“

Ich sage: „Wie bitte?“, und er sagt es noch mal: „Ist das dein Gestapo-Ausweis?“

Dieser Frage wohnt ein solches Überraschungsmoment inne, dass ich nichts erwidern, sondern nur mit einem mimischen Mix darauf reagieren kann. Würde ich mich in dieser Sekunde im Spiegel sehen oder durch die Augen des Männchens, dann müsste ich diesen Mix als Komposition aus Verblüffung, Ärger und Empörung beschreiben.

Und das ist wohl auch seine Interpretation. Es dreht sich weg und huscht behende davon, ein buckliges graues Etwas mit jahrzehntealten Hosenträgern, das keine Antwort erwartet auf eine solche Frage, aber froh ist, sie gestellt zu haben.

Ich ahne schlagartig den Schleier einer ganzen Lebensgeschichte. Sie muss irgendwann in den 20ern oder 30ern begonnen haben; und das, was damals mit ihm und seiner Familie geschah, muss über Dekaden hinweg weitergeschwärt haben wie ein Fluch, der sich heute, am Berliner Bahnhof Zoo, als absurde Frage an einen Wildfremden wieder einmal kurz materialisiert.

Meinen Popkomm-Ausweis habe ich heute Abend übrigens weggeworfen.

Ex cathedra: Die Top 3 der Songs mit geschichtlichem Bezug
1. „The history of rain" von Paul K. & The Weathermen
2. „In Germany before the war“ von Randy Newman
3. „Ohio“ von Neil Young

Foto: Bahnhof Messe Nord, Berlin (Am Zoo war ich zu konsterniert zum Knipsen.)

PS: Heute steht in der taz ein Artikel über Blogger aus Altona und St. Pauli, in dem auch „Die Rückseite der Reeperbahn“ freundliche Erwähnung findet. Allerdings zitiert mich Frau Bigalke falsch. Ich würde nur unterm Einfluss von Drogen „der“ Blog sagen. In Wahrheit sagte ich „das“ Blog. Obwohl natürlich inzwischen beides geht, laut Duden.

02 September 2006

Hartmut Mehdorn oder Die Arroganz der Macht

Im neuen Berliner Hauptbahnhof, hinter dessen Gitterkonstruktion die Zentrale der Deutschen Bahn himmelhoch aufragt wie einst der Turm von Babylon, versteht man komischerweise alle Ansagen. Sogar wenn sie die Situation fünf Gleise weiter betreffen.

Aber warum sagt die Ansagerin bloß „siebzehnuhrDREIundfünfzig“ statt „siebzehnuhrdreiundFÜNFZIG“? Das klingt ja, als korrigiere sie eine Abfahrzeit. Tut sie aber gar nicht; es ist einfach ihre ganz normale Falschbetonung, die zu Verwirrung an den Bahnsteigen führt – sogar fünf Gleise weit.

Das bringt mich auf einen Disput, den ich zurzeit mit dem Bahnchef Harmut Mehdorn ausfechte. Besser gesagt: Ich disputiere, und Mehdorn schweigt dazu.

Vorgeschichte: Ms. Columbo und ich wollten nach Berlin, kauften online zwei Tickets, eine Erkrankung kam dazwischen, ich ging zwei Tage vor der Fahrt zum Schalter im Bahnhof Altona, wo man mir sagte, ich solle die Karten an den DB Service nach Frankfurt schicken und bekäme sie abzüglich Stornogebühr erstattet. Ich tat wie geheißen, erfuhr dann aber per Brief, aus „tarifrechtlichen Gründen“ sei eine Erstattung nicht möglich. Ich hätte nämlich – was ich nicht wusste – online stornieren müssen.

Natürlich widersprach ich, schilderte in bewegenden Worten die Begebenheit am Schalter, doch aus Frankfurt hörte ich nichts mehr. Auch nicht auf den nächsten Brief. Das ärgerte mich, und ich dachte: Na gut, dann auf zur nächsten Instanz. Oder zur höchsten: Hartmut Mehdorn, so meine Idee, sollte erfahren, wie seine Leute die Kunden behandeln. Wo er doch nächstes Jahr an die Börse will und jede Unterstützung braucht, selbst meine und die von Ms. Columbo!

Also schrieb ich ihn an, schilderte noch einmal höflich den ganzen Verlauf und lehnte mich in Erwartung einer Mehdornschen Intervention im Namen der Gerechtigkeit oder wenigstens der Kulanz wohlig zurück. Doch Mehdorn schwieg. Und schweigt noch immer. Die verweigerte Rückzahlung unverschuldet verfallener Tickets scheint offenbar auch ihm völlig rechtens. Zumindest muss ich sein Schweigen so deuten.

Wie die Chargen in Frankfurt möchte auch Herr Mehdorn, an den ich mich doch erst aus Verzweiflung wandte, mein Anliegen einfach wegschweigen – die Arroganz der Macht des Turmherrn von Babylon.

Mehdorn, der Bill Gates des deutschen Transportwesens, braucht mich eben nicht, trotz Börsengang. Er hat Millionen andere Fahrgäste, die lemminggleich hinströmen zu ihm und seinen Zügen und wahrscheinlich auch zu seinen Aktien. Warum also sollte er antworten auf den Brief eines kleinen frustrierten Bahnkunden – oder ihm gar das Ticket rückerstatten? Nein, Mehdorn sagt nix. Wahrscheinlich feixt er zwischendurch höchstens mal, wenn es denn sein Terminplan zulässt.

Da mir dummerweise ein Kohlhaas'scher Wesenszug eigen ist, wenn ich übers Ohr gehauen werde und sei es von der Deutschen Bahn, habe ich den Fall jetzt auf Anraten des Verbraucherschutzes der sogenannten Schlichtungsstelle Mobilität übergeben, deren Vorschlag zur Güte ich schon mal akzeptiert habe. Mal sehen, ob sich auch Turmherr Mehdorn oder ein Vasall nun endlich zu einer Äußerung herablässt. Ein Wort würde reichen, Mehdorn, eine kleine Geste! Es ist ja nur dieses hochmütige Angeschwiegenwerden, welches schmerzt! Und es schmerzt sehr.

Also, Mehdorn: Sag was! Dann geb ich auch Ruhe. Und dann kannst du dir die 90 Euro gerne dahin stecken, wo ein Triebwagen die Puffer hat.

Nachtrag vom 13. 9. 2006:
Über die Schlichtungsstelle hat die Bahn mir heute 50 Euro Rückerstattung angeboten, aus „Kulanz“. Ich habe angenommen.

Ex cathedra: Die Top 10 der Songs über Züge
1. „Orange Blossom Special“ von Johnny Cash
2. „Last train to mercy“ von Terry Lee Hale
3. „Last train to Memphis“ von The Band
4. „Silver city train“ von The Shivers
5. „Trolley in the train“ von Ai Phoenix
6. „The City of New Orleans“ von Steve Goodman
7. „Train serenade“ von 16 Horsepower
8. „Night train“ von Bruce Cockburn
9. „Post train to Bayreuth“ von Spyra
10. „Train to Jackson“ von Jeffrey Foucault

18 Juli 2006

Berlin kennt keine Bandansagen

Kaum in Berlin, erweckt ein Busfahrer der Linie M46 mein ganzes Mitgefühl. Der arme Knecht muss nämlich nicht nur seinen Dieseltrumm durchs Chaos des Hauptstadtverkehrs manövrieren, sondern auch noch alle Haltestellen selber ansagen und die Anschlussbahnen und -busse gleich mit. Und das alles an jeder schäbigen Station und hinein in ein fies fiependes Mikrofon, zu dem er sich auch noch linksseitig tief hinabbeugen muss.

Seine Halswirbelsäule wirkt bereits gefährlich verbogen, und sein Rücken neigt zu ungesunder Wölbung. Der ganze Mensch wirkt unterm satanischen Wechselspiel aus Schalten, Gasgeben, Bremsen und krumm Ansagenmachen verhärmt und ausgelaugt. Früher sahen nur die Junkies am Bahnhof Zoo so aus. Sein Schnurrbart ist strohig, sein immerhin dichtes Haupthaar so aschfahl, als sähe er die Sonne nie, dabei sitzt er doch den ganzen Tag gleichsam mittendrin.

Klar, deses Verdammtsein zur unablässigen Ansagerei verhärmt jeden gesunden Menschen über kurz oder lang. Vor jeder Station denkt der Mann sich doch: Jleich muss icke wieder quaddeln, und dette jrässlich fehljustierte Mikro taugt jarnüscht und uzt mir auch noch!

In Hamburg – um jetzt mal wohldosiert die lokalpatriotische Karte auszuspielen – kommt so etwas komplett vom Band, liebe BVG, da muss sich kein Busfahrer mit abmühen; er kann sich stattdessen Ampeln und Mitverkehr widmen und falsch abbiegende Radfahrer sauber erlegen. In der hiesigen U-Bahn spielen sie momentan sogar locker Kinderstimmen ein, die fröhlich „St. Pauli!“ krähen oder „Please leave here for harbour boat trips!"

Ja, Berlin, soweit ist die Technik bei uns schon: Bandansagen! Vollautomatisch! Stell dir das mal vor: Keine 300 Kilometer entfernt, und doch eine ganz andere Zivilisationsstufe!

An der gebeugten aschfahlen Figur hinterm Lenker auf der Berliner Linie M46 hingegen erkennt man ungeschönt die ganze bittere Lage der Haupstadt – und zwar viel besser, als sie aus todtraurigen Wowereitschen Haushaltsplänen je herauszulesen wäre.

Ex cathedra: Die Top 3 der Songs über den öffentliche Personennahverkehr
1. „Crosstown traffic" von Jimi Hendrix
2. „Stuck inside of mobile (with the Memphis blues again)" von Bob Dylan
3. „Autobahn" von Kraftwerk