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16 September 2023

Bloggeburtstag Nr. 18


Auch zum achtzehnten Bloggeburtstag nehme ich Ihre und eure Glückwünsche nur verschämt entgegen, da das zurückliegende Jahr meinerseits wieder einmal eher von Prokrastination als hoher Blogfrequenz geprägt war. Zu meinem Glück hat aber eh bisher nur eine Person gratuliert, und zwar die mir sowieso sehr zugeneigte Ms. Columbo. Somit hält sich meine Scham in Grenzen.

Apropos Prokrastination: Was generell im Leben gilt, gilt auch beim Bloggen – der innere Schweinehund ist verteufelt flexibel. Wenn ich zweitausend Blogbesucher am Tag habe, flüstert er: Du brauchst nichts zu schreiben, die Leute kommen ja eh. Und wenn es nur hundert sind, winkt er ab: Du brauchst nichts zu schreiben, interessiert ja eh keinen. Das Ergebnis ist jeweils dasselbe: Ich schreibe keinen neuen Blogeintrag. Und das kann’s ja auf Dauer nun wirklich nicht sein! 

Deshalb gelobe ich heute – wie jedes Jahr – Besserung. Denn irgendwo da draußen sind ja doch immer noch welche, die sich an sporadischen Meldungen von der Rückseite der Reeperbahn erfreuen. Wie man an oben abgebildeter Grafik sieht, welche die vergangenen zwölf Jahre abbildet, sorgen diese liebreizenden Menschen (ja, Sie!) dafür, dass sich die Besucherzahl stetig, aber immer langsamer der Sechsmillionengrenze nähert. Bei einem monatlichen Durchschnitt, der nur noch selten die Zehntausendermarke knackt (es waren auch schon mal achtzigtausend!), ist das Schneckentempo natürlich kein Wunder.

Zu den beliebtesten Blogtexten des Jahres gehört skurrilerweise einer von Anno Domini 2016. Seit Monaten erfreut er sich wieder stabiler Beliebtheit. Es geht darin um eine bizarre Grabstätte auf dem Wiener Zentralfriedhof und um ausgeraubte Nutella-Gläser in Hamburg.

Wenn mir jemand vielleicht verklickern könnte und möchte, warum ausgerechnet dieser Text wieder aus den Tiefen des Archivs hochgestiegen ist und dann auch noch so dauerhaft reüssiert, dann möge er oder sie es gerne tun. Dann schreibe ich nämlich noch mal so einen! 

Und hätte zum neunzehnten Bloggeburtstag wieder was zu erzählen.



 

16 September 2022

Bloggeburtstag Nr. 17


Statt den nunmehr siebzehnten Bloggeburtstag langweiligerweise erneut zum Anlass zu nehmen, mich wegen der weiter schwindenden Blogfrequenz selbst zu tadeln, nutze ich ihn lieber als Anlass zu einer kleinen Bildergalerie – aufgemacht natürlich mit dem jährlich üblichen Chart.

Neulich waren wir in Ohlsdorf und haben Uwe Seeler besucht. Niemand störte uns. Rund ums Grab war zudem erstaunlich wenig drapiert angesichts der Tatsache, dass Seeler neben Helmut Schmidt und Johannes Brahms der wahrscheinlich berühmteste Hamburger aller (bisherigen) Zeiten war. Passt aber zu der traurigen Gedenkveranstaltung im Volksparkstadion, bei der sich nur fünftausend Gestalten im allzu weiten Rund verloren. 


Einer der letzten Sommertage nahe der Strandperle an der Elbe.


Spielbudenplatz mit Werbung für ein bierähnliches Getränk. Aber Rot, das können sie!


In Weimar stießen wir nicht nur auf die wahrscheinlich burkaeskeste Immobilie westlich von Mekka …


… sondern auch auf eine Statue des Dichters Christoph Martin Wieland, der man eine leere Flasche in die Hand gedrückt hatte – was das Fotomotiv deutlich aufwertete.


Im Ostseebad Großenbrode schließlich lag nicht nur der Hund begraben, sondern auch die Ziege im Tiefschlaf.



18 September 2021

Bloggeburtstag Nr. 16


Wie im vergangenen Jahr bin ich auch diesmal erschütternd säumig, was meine Selbstgratulation zum Bloggeburtstag angeht. Na ja, das sechzehnte Wiegenfest ist nun einmal kein rundes, da darf man eher schon mal patzen.

Die oben zu sehende Statistik zu den Besucherzahlen reicht nur eine Dekade zurück, zeigt aber mit beschämender Konsequenz einen seit zwei Jahren anhaltenden Absturz. Wer als Blogger allerdings auch nur noch zwei oder drei Texte pro Monat veröffentlicht, darf sich keinesfalls wundern, wenn selbst ein dir noch so wohlgesinntes Webvolk sich kopfschüttelnd abwendet – oder zwischen zwei Beiträgen einfach vergisst, dass dieses Blog überhaupt existiert.

Jedoch scheint auch Google die Messmethode verändert zu haben, denn von einem Tag auf den anderen halbierten sich die Werte, und kein Mensch weiß, warum, ich am allerwenigsten. Vielleicht verübelt Google es mir auch, dass es hier vergebens nach einer Suchmaschinenoptimierung oder Werbeplätzen gesucht hat.

Einstweilen verabschiede ich mich gleichwohl mit der Aussicht auf Bloggeburtstag Nummer siebzehn, und bis dahin wird hier auch noch der ein oder andere Artikel zu lesen sein.

Ich schwör.

PS: Habe ich eigentlich schon erwähnt, dass der neu angeschaffte Fahrradständer genau zwei Tage am Rad verblieb, ehe auch der mir wieder abgeschnitten wurde? Dann wissen Sie es jetzt.



19 September 2020

Bloggeburtstag Nr. 15


Das nächste halbrunde Jubiläum dieses Blogs  ereignete sich bereits vor drei Tagen, am 16. September – und ich habe es trotz eines vorsorglich eingerichteten Kalenderalarms verpasst. 

Deshalb hier nun eine kleine nachträgliche Gratulation an mich selbst dafür, dass dieses Projekt wahrhaftig noch immer existiert, wenn auch mehr schlecht als recht. Aber immerhin! Etwas hat überlebt, und von Zeit zu Zeit erhebt es sein krauses Haupt und erschreckt die Welt mit Reeperbahngeschichten. 

Nur wenige Wochen vorm fünfzehnten Bloggeburtstag hätte ich auch den fünfmillionsten Besucher begrüßen können, sofern entsprechende Tools in Betrieb wären, die mich darauf aufmerksam machen würden. Was nicht der Fall ist; und natürlich weiß ich auch nicht, ob die Fünfmillionenmarke nicht vielleicht von einer Besucherin geknackt wurde oder von jemand Diversem.

Aus der oben abgebildeten Grafik geht die monatliche Besucherstatistik der vergangenen zehn Jahre hervor. Man sieht recht deutlich, dass eine nachlassende Veröffentlichungsfrequenz – und an die erinnern mich manche, die regelmäßig hier vorbeischauen, mit liebevoll mahnenden Worten immer wieder, wofür ich sehr dankbar bin – auch einhergeht mit rückläufigen Besuchszahlen.

Wahrscheinlich bräuchte ich einfach nur eine Million weiterer Blogtexte zu veröffentlichen, und schon würde hier alles derart explodieren, dass mich das Internet auf meine alten Tage noch zum Influencer adelte. Und wissen Sie was? Vielleicht mach ich das auch!

Und jetzt stoßen Sie bitte mit mir an auf die nächsten fünfzehn Jahre Rückseite der Reeperbahn. Es war und ist schön mit Ihnen, und so wird es auch bleiben, da bin ich mir sicher. Ziemlich.



16 September 2019

Bloggeburtstag Nr. 14!


Sehr schmeichelhaft, dass die Deutsche Fußball Liga das Hamburger Stadtderby am Millerntor dieses Jahr genau auf den 14. Geburtstag dieses Blogs gelegt hat. Und dann auch noch inklusive Heimsieg! Das nehme ich persönlich.

Statistisch verliefen die vergangenen zwölf Monate aus Blogbetreibersicht sehr zufriedenstellend. Die Besucherzahl stieg auf insgesamt 4.646.268, der Monatsschnitt hat sich über 40.000 stabilisiert. Danke dafür, meine Damen, Herren und Diverse! 

Zwei Beiträge aus dem Berichtsjahr haben sich sogar in den unten aufgelisteten Top Ten der meistgelesenen überhaupt vorgearbeitet. Dass der auf Rang sechs lediglich aus einem Foto bestand (dem Kinosaal der Astor-Filmlounge), verstehe ich als subtile Kritik an meinem Schreibstil. Immerhin stieß auch meine Eloge auf den 70 Jahre jung gewordenen Universalkünstler Ernst Kahl auf reges Interesse, und das kalmiert mich wieder.

Hier nun die zehn meistgelesenen Blogbeiträge mit der Zahl der Aufrufe zwischen September 2005 und heute:



27.09.2005, 44 Kommentare
36960

15.07.2018, 2 Kommentare
10359

9287

8461

8039

7859

24.04.2018, 2 Kommentare
7853

7614

09.02.2019, 2 Kommentare
7536

7491


Standesgemäß sind natürlich weiterhin die Huren ganz weit vorn, und so gehört es sich auch für ein Blog, dessen Hirn und Herz der Hamburger Kiez ist. Auf die nächsten gemeinsamen zwölf Monate!


09 Februar 2019

Grauenvoll witzig: Ernst Kahl zum 70.

Dass Ernst Kahl, dieser geniale Struwwel-, Schlau- und Kindskopf, am 11. Februar schon 70 wird, klingt nicht nur surreal, sondern sollte auch unbedingt mit einem bundesweiten Feiertag begangen werden. Steinmeier, wie isses? Die unwiderlegbare Begründung dafür folgt unten in meinem Porträt über den Künstler als mitteljunger Mann, das zwar schon 1997 entstand, aber vor allem dank seines Protagonisten in Würde gereift ist. 

Die Caricatura in Frankfurt hat die Feiertagsidee beherzt aufgegriffen und sie völlig zurecht gleich auf ein ganzes Vierteljahr ausgelegt. So lange nämlich läuft die Ausstellung, die dem Giganten Ernst Kahl gewidmet ist, und wer im Umkreis von 600 Kilometern drumherum wohnt und sie nicht aufsucht, der wird sich dereinst vor seinem Schöpfer für dieses Versäumnis verantworten müssen. 

Nun aber zu meiner feuchtfröhlichen Ernst-Kahl-Homestory – eine aufrichtigere  Gratulation habe ich nicht in petto. Und vor allem keine wortreichere.



Komik ist Notwehr


Was kann Ernst Kahl eigentlich nicht? Gerade ist ein Kunstband erschienen, der ihn als Klon aus Busch, Magritte, Caspar David Friedrich und Hitchcock ausweist. Aber Kahl ist auch Musiker, Drehbuchautor, Humorist und Kolumnist. Was bleibt, wenn man all das wegrechnet? Ein Hausbesuch soll Klarheit bringen.


Wer zu Ernst Kahl will, muss in einen Hamburger Hinterhof. Der Gang dorthin ist dunkel – dass bloß der australische Chardonnay, den man vorsorglich dabei hat, nirgends aneckt! Denn Kahls Stimme am Telefon hob sich merklich, als man das geistige Mitbringsel erwähnte. „Flasche Wein? Eigentlich hatte ich heute Abend zwar einen Termin mit einer balinesischen Tempel- und Nackttänzerin, aber für einen australischen Chardonnay lasse ich alles stehn.“

Bei Kahl sieht es nach Bombenterror oder brünstigem Hauskater aus. Der legere Hausherr im gerippten Pulli ist damit sehr zufrieden. „Ich habe gerade ein wenig aufgeräumt“, sagt er nicht unstolz. Jeans liegen auf der Heizung, in den Ecken Gitarren. Herum hockt protzig ein Schlagzeug. Wir sind in Kahls Wohnzimmer, das auf eine kunstlose Art nicht eingerichtet ist. Kahl ist völlig unspießig, aber nicht aus Ideologie. Er findet einfach nichts dabei, wenn Stühle dastehen wie vom Spediteur vergessen. Wenn Boden und Tisch mit Blättern unterschiedlicher Wichtigkeit bestreut sind. Wenn die Wände alle kahl sind und nicht voller Kahls.

Sollte seine junge, frische Freundin hier mal einziehen, was sie sich durchaus vorstellen kann und Kahl auch schon ein bisschen, dann will sie zuerst Struktur ins Chaos bringen. Das wäre dann die erste Struktur, mit der er leben könnte. Vielleicht. Hier haust offenbar ein Bohémien, vielleicht auch ein Chaot oder ein Bettler oder einer, der alles zusammen ist – aber doch keiner, dem der Filmproduzent Bernd Eichinger für eine Woche Drehbuchschreiben mal eben 10 000 Mark überweist, obwohl das Ding dann doch nicht verfilmt wird.

Ja, der Herr Kahl: ein verwuselter Wohner, aber ein genauer, manischer und verlässlich kreativer Kunstarbeiter. Drei Wochen lang hat er gerade gepinselt wie ein Galeerensklave, weil in Bochum eine Strindberg-Premiere seines Freundes Detlev Buck droht und im Schauspielhaus pünktlich echte Kahls hängen sollen. Alte Bilder malte er dafür groß nach. „Winzige Boshaftigkeiten auf große Formate – und plötzlich kriegen die was Klassisches“, wundert er sich. Winzige Boshaftigkeiten? Kahl meint Bilder wie „Mondscheinidyll“. Drauf ein Gör mit blutverschmiertem Mund, daneben ein Kampfhund mit durchbissener Kehle. „Das ist ganz merkwürdig“, sagt er ernst. „Niemand würde sich trauen, so ein Motiv ganz groß zu malen.“ Niemand außer Kahl.

Wissen die Bochumer eigentlich, welche Kulissenschocker da auf sie zukommen? Kahl grinst genüßlich und tut, was er unablässig mit seiner weitläufigen Bude tut: Er qualmt sie voll. „Ich glaube nicht. Fürs Theater ist es wahrscheinlich schon ein Hammer. Es hat eine … banale Hintergründigkeit. Dadurch, dass ich lakonisch und banal die absoluten Grausamkeiten beschreibe, haben sie etwas Alltägliches. Nicht wie Helnwein, der schockieren will mit richtigen Schmerzbildern. Meine sind ohne Blut, ohne Grauen, aber witzig. Viele werden sagen: Das ist doch keine Kunst. Aber diesen Kampf nehme ich gerne auf. Es wird Zeit, dass das Absurde und Komische Eingang in die Kunst finden. Beim Lachen hört die Kunst auf, und das ist ein Witz.“

Nach der wochenlangen Malorgie, zu der er sich gar die Matratze ins Atelier holte, kann Kahl kaum noch stehen. Er stakst einher wie ein Storch. Alle zwei Tage ein Bild, davor die Produktion des voluminösen Bandes „Kahls Künste“, zwischendurch Songs schreiben, sie mit Kumpel Hardy Kayser aufnehmen im kleinen Heimstudio, Konzerte geben, das Drehbuch für Wigald Bonings ersten Kinofilm „Die drei Mädels von der Tankstelle“ schreiben (Start: 12. Juni): Jetzt ist er schlapp, der Kahl.

Ein Wunder, dass er noch zum Aufräumen gekommen ist. Ein Wunder auch, dass das Telefon den ganzen Abend nicht klingelt. Aber Kahl ist ein Voodoopriester auf intuitivem Feldzug gegen funktionierende Technik. Wenn er kommt, versagen CD-Player, Platten gehen kaputt. Nacheinander werden sich heute abend vier Batterien weigern, das Aufnahmegerät zu betreiben. „Die Technik“, sagt der computerlose Kahl befriedigt, „mag mich nicht. Und ich mag die Technik nicht.“

Er ist jetzt 47 und berühmt. Seine Bio im Zeitraffer: in Kiel geboren, Kinderlähmung mit vier, zwei Lehren geschmissen, mit 17 von zu Hause abgehauen, Kunststudium in Hamburg an- und abgebrochen, Bildersammlung in der S-Bahn vergessen, Hilfslehrer auf der Hallig Hooge, nach vielen, auch amourösen, Wirren zurück nach Hamburg.

„Bin vom Leben“, grinst Kahl, „mit rauer Zunge beleckt worden.“ Zu den karrieregefährdenden Defekten der frühen Jahre gehörte nicht nur eine solide Grundrenitenz gegen „Strukturen“, sondern auch eine handfeste Paranoia. Die wurde er irgendwann wieder los, seinen Schiss vor Prüfungen dagegen nie. Bis heute examinierte noch keine Kommission dieser Welt den Kahl. Damals, auf der Kunsthochschule, haben sie ihn dank der mitgeführten Mappe genommen. Rechtzeitig vorm Abschluss schlich er sich.

So einer hat auch keinen Führerschein. Wenn man ihn fragt, warum, erzählt er immer, er sei mal mit dem Auto in eine Fußgängergruppe gerast. Drei Tote, aber nicht seine Schuld – Getriebeschaden halt. Dann genießt er die Betretenheit und grinst sich heimlich eins – Kahlscher Humor. Aufgeklärt wird die Schauermär natürlich nie.

Nicht nur wegen seiner Prüfungsangst wird Kahl kaum noch zum Führerschein kommen; er ist einfach ausgelastet bis zum Nichtmehraufräumenkönnen. Bei dem, was er so alles macht, wird einem ganz schwindlig, und dabei ist der Wein gerade erst entkorkt.

Kahl malt und zeichnet, mal wie ein alter Meister, mal kunstvoll ungelenk wie ein Pennäler; Kahl schreibt, singt, macht dies und das und irgendwie alles richtig. Ist die Zeit der Universalgenies nicht vorbei? War nicht circa Goethe der letzte, der dichtete, dokterte und kritzelte? Kahl macht das auch, nur komischer, respektloser. Der Clash der Hoch- und Tiefkulturen – wenn Kahl kommt, rasselt es richtig. Er, der ein Traktat mal ironisch „Die kleine Kunst des geraden Blicks“ taufte, ist nämlich ein Kreuz-und-quer- und Drunter-und-drüber-Gucker.

So verblüffend leicht er auch zwischen Vermeer und Disney, zwischen Karl Kraus und Heinz Erhard changiert, so wenig achtet er den Ernst der Lage. Nach allem, was so rauszulesen und -lachen ist aus seinem Werk, ist Kahl ein Nihilist.

Man stößt auf Mönche, die Tote begatten, und auf Kinder, die Lehrer enthaupten. Keine Werte, nur Werke? Ein Gott nach Kahlschem Gusto muss ein Freak sein. „Gott?“ japst Kahl. „Unvorstellbar für mich. Ich arbeite gerne mit Klischees, die es über Religion gibt, um zu irritieren. Aber so überstark, dass sie schon wieder komisch sind.“ Als Knabe sang er im Chor, doch kurz nach der Konfirmation sagte er Tschüs zur Kirche. Der Pastor versuchte noch, ihm ins Gewissen zu reden. Nützte nichts: Kahl hatte gar keins.

Ihm scheint nichts heilig zu sein. „Ein völlig falscher Eindruck“, wehrt er ab. „So vieles ist mir heilig – ich versinke in Ehrfurcht davor. Nehmen wir die Punks mit ihrer Hoffnungslosigkeit und zugleich ihrer ganzen Liebe. Die sind mir heilig: die Parias unserer Gesellschaft.“

Ernst Kahl ist das, was Kris Kristofferson mal über Johnny Cash sagte: „a walking contradiction“. Nichts an ihm ist stimmig. Kahl hat keine Glatze, und Ernst ist witzig. Und sein Spaß fängt da an, wo er gemeinhin aufhört. Dabei will er gar kein Wadenbeißer mit Ansage sein wie Wiglaf Droste. Nur sich lustig machen über „Strukturen“, wie er alles nennt, was einengt, niederdrückt oder uns Blödsinn nachplappern lässt.

Das kostete ihn 1989 den Job beim Politmagazin Konkret. Wegen Rassismus. Was hatte er getan? Den linken Kuscheltierblick auf Ausländer veralbert, indem er eine Galerie malte mit Ausländern, die wählen dürfen sollen und solchen, die nicht; und letztere waren dann alles Verbrecher und phsyiognomisch Missratene. Da durchfuhr ein „Huch!“ die Redaktion, und ihren Rat kann Kahl bis heute auswendig hersagen: „Auf die Deutschen kannst du einhauen, wie du willst“, beschied man barsch, „aber nicht auf die Ausländer!“

Die Satirezeitschrift Titanic füllte die publizistische Lücke, Kahl dagegen keine Konkret-Seiten mehr. Inzwischen hat er auch mit den Titanic-Leuten Probleme: „Das sind alles Oberschüler. Kein Platz für einen einfachen Scheißwitz, der nicht intellektuell sein will.“

Einen wie den, den Kahl mal malte: Hängt ein Spiegelei am Himmel, und drunter steht – „Ei in the sky“. Ein echter Kahlauer. Oder den: Liegt eine verreckende Vettel im Sterbebett, Gevatter Hein steht schon am Bettpfosten, und sie begrüßt ihn in letzter Lüsternheit mit: „Tod, wo ist dein Stachel?“

Zeit, mit Kahl über Kunst zu reden. Er zeigt auf einen Pflasterstein in der Ecke, auf dem eine Steinkugel liegt. Nicht irgendeine, ein Mahlstein aus der Steinzeit. „Ist das Kunst?“ fragt er rhetorisch. „Ich könnte es auch auf einer Ausstellung für sich selber sprechen lassen.“

Heute nacht noch, nach dem Chardonnay, will er irgendwo im Viertel ein komisch geformtes Holzstück auflesen, das ihm mittags beim Spaziergang auffiel. „Ein Stamm mit ner Gabel“, erinnert er sich. „Sieht aus wie eine früheisenzeitliche Götterstatue, die sie in Schleswig manchmal aus dem Moor holen. Das wird hier irgendwann stehen.“ Aber Kunst? Jedenfalls Kahl-genehm. Genau wie das Morbide, Böse und Banale, wie Perfides und Peinliches, Plattes und Naives, die Zote, das Hochkünstlerische und der Kalauer. Bei ihm koexistiert all das durcheinander. Deshalb eckt er oft an, nicht nur bei Snobs.

Kahl ist ein Toleranzgrenzentrüffelschwein. Wie erleichternd, dass selbst so einer seine Vorurteile hat. „War heute beim Griechen essen. Da lief so eine Blubberhiphopscheiße, so ‘n Kommerzquatsch. Ich bin richtig explodiert.“ Dem Kahl kann man nur mit Stones kommen und Animals. Der Grenzverletzer und Genrevermischer, der noch jedes Idyll per Pinselstrich gekillt hat: Hier ist er dogmatisch. Hier gilt das Wahre, Schöne, Gute, nicht der Hip von heute. Seine eigenen Songs sind niedliche Pseudo-Kinderlieder („Die rüstige Frau Reimann/sieht aus wie Billy Wyman/Marie, die alte Fotz/geht weg als Charlie Watts“). Sie haben Plinkergitarren und hopsigen Takt. Und zwischen zwei Endreimen flieht bisweilen ein Einsamer zur tiefgefrorenen Lieblingsleiche.

„Es kommt immer darauf an, wie man sich einem Thema nähert“, findet der Geist, der sich solches ausdenkt. „Unbeholfen etwas Gemeines erzählen, kommt konspirativer daher.“ Das versteht nicht jeder. Kahl ist vielen ein Rätsel. Wie und was er malt und schreibt: Das beflügelt die Fantasie über den Urheber. Dabei ist er keiner, der Drogen braucht, um ein schlangenjagendes Karnickel zu visionieren. Nein, mit koksgetrübtem Blick wäre die sich dahinter perspektivisch perfekt verlierende Landschaft nicht zu schauen und nicht zu malen. Für so etwas musst du wach sein. Und eine Hand haben, die nicht zittert.

Max Goldt, das hat Droste ihm geflüstert, hält Kahl für einen bitterbösen Menschen. Das versteht er kein bisschen. Vielleicht hat Goldt zu lange vorm Gemälde „Abendfrieden“ gestanden, wo eine Familie unter einem Galgen rastet, an dem noch ein Gehenkter baumelt. Und helle, wie Kahlsche Bilderkinder sind, haben Brüder- und Schwesterlein der Leiche ein Brett zwischen die Füße gebunden, damit sie als Schaukel taugt.

Kahl travestiert das Erhabene durch das Gemeine, meint eine Exegetin. Macht ihn das bitterböse? „Nein, wirklich nicht“, sagt Kahl, „für mich ist das Lebenshilfe, Dinge absurd zu betrachten. Komik ist Notwehr.“ Gegen Strukturen natürlich.

Alle Kunst und Komik schöpft er aus sich selber, denn er konsumiert die Kinkerlitzchen der Konkurrenz nicht. Wie bei so wenig Input soviel herausfließen kann, ist das größte Rätsel. Durchs Dauerknutschen mit Kahl will die Muse wohl ins „Guinness Buch der Rekorde“. Und sie steckt ihm wirklich komische Sachen. Einem Kasseler documenta-Funktionär schlug Kahl vor, den Bahnhofsvorplatz umzugestalten, dies jedoch von Pygmäen tun zu lassen. „Fragt der Typ nach der Aussage“, feixt Kahl. „Und ich sage: Scheiß auf die Aussage! Ich find‘s einfach klasse!“

Nein, Kahl ist kein Intellektueller. Wer mit ihm über die Bedeutung des Kreises im Spätwerk Kandinskys reden will, kriegt einen Korb und Chardonnay nachgeschenkt. Kahl weiß ja nicht, was Kunst ist. Er weiß nur, was dabei herauskommt, wenn er etwas klasse findet.

Und das reicht wahrscheinlich für die Unsterblichkeit.

(Erstmals erschienen 1997 in kulturnews)


alle Bilder: Ernst Kahl

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16 September 2018

Aller guten (Blog-)Dinge sind 13


Dass dieses Blog im Lauf der vergangenen zwölf Monate den viermillionsten Besucher begrüßen durfte, ist angesichts der erneut dramatisch eingebrochenen Veröffentlichungsfrequenz schon verwunderlich. Und ein wenig beschämend für den inhaltlich Verantwortlichen. 

Denn was finden Neuankömmlinge hier vor? Vor allem einen Riesenberg Vergangenheit. Das muss anders werden (sage ich mir jedes Jahr). Schließlich passieren hier auf St. Pauli immer noch Dinge. Erwähnenswerte Dinge. Wie neulich beim Kiezbäcker, als ich in der Schlange hinter einem gutgelaunten jungen Mann afrikanischer Provenienz darauf wartete, die im Dauerabonnement vorbestellten Karottenbrötchen abzuholen.

Als der junge Mann mich erblickte, drehte er sich um, hob überraschenderweise die Hand zum High Five und sagte mit einem Strahlen, dessen man wahrscheinlich nur dann fähig ist, wenn man neulich in einem lecken Schlauchboot die Mittelmeerpassage überlebt hat: „Germany is the greatest country in the world – because I’m here!“ Eine Logik, die holperte, aber nur auf den ersten Blick. Ich wusste jedenfalls sofort, was er meinte, und schlug grinsend ein. 

Das war noch vor Chemnitz, und vielleicht ist Germany in puncto Greatness für ihn inzwischen auf Platz zwei  oder drei abgerutscht, aber er freut sich mit Sicherheit noch immer, hier zu sein – und ich freue mich noch immer, mit Typen wie ihm beim Kiezbäcker eine Warteschlange zu bilden. 

Wahrscheinlich wird es allerdings eine Weile dauern, bis der neue Mitbürger ausreichend Deutsch gelernt hat, um die denglischen Kalauer zu dechiffrieren, die zurzeit vor allem Foodtrucks befallen wie Wespen heute meinen Tartufobecher in einer Eisdiele in der Stader Altstadt. Zur Beweisführung mögen die hier präsentierten Fotos von Beispielen gelten, die ich allesamt auf dem Spielbudenplatz auf frischer Tat ertappte.

Und jetzt feiere ich den 13. Bloggeburtstag, möglicherweise mit einem mitternächtlichen Ratsherrenpils. High Five!





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