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24 Juni 2021

Als wären sie nie da gewesen

Unten im Treppenhaus, direkt hinter der Eingangstür, hat es sich ein Paar gemütlich gemacht, das hier definitiv keinen Mietvertrag besitzt. Es versperrt mir, der ich das Haus verlassen will, den Weg. Nach der Größe der herumliegenden Rucksäcke zu schließen, haben die beiden ihren halben Hausrat dabei; eher ist es sogar ihr ganzer. Auch zwei Fahrräder gehören dazu.

Eins davon ist ein Herrenrad. Es wirkt selbst auf einen Laien wie mich recht hochwertig. Ich bezweifle ehrlich gesagt, dass sein Besitzer schlüssig und rechtskonform herleiten könnte, wie er dessen habhaft wurde. Die Frau verbirgt sich halb unter einer Hoodiekapuze, tut geschäftig und brabbelt wirr vor sich hin, während er ansprechbar wirkt.

„Bitte gehen Sie“, sage ich zu den beiden, die nach meinem Auftauchen – wohl aus langjähriger Vertreibungserfahrung klug geworden – bereits eigeninitiativ damit begonnen haben, ihr Lager abzubrechen. „Wie sind Sie überhaupt hereingekommen?“

Der Mann trägt Radlerhosen und Haar- und Bartfrisuren, die schon lange nicht mehr von einem Profi in Augenschein genommen wurden – und Letzterer würde sich bei einem entsprechend vorgetragenen Anliegen wahrscheinlich auch weigern, ohne Gefahrenzulage tätig zu werden.

„Die Tür stand auf“, antwortet der Mann, ohne mich anzuschauen.
„Ich warte, bis Sie weg sind“, sage ich.

Es dauert lange Minuten, ehe alles weitgehend still und stumm verstaut ist. Auch ein Ladegerät will aus der frei zugänglichen Steckdose, die dummerweise über dem Stromkasten angebracht ist, entfernt werden. (Notiz an mich selbst: Hausverwaltung um ein Steckdosenschloss bitten.)

Ich bin den beiden nicht böse, auch sie wollen schließlich über die Runden kommen. Aber einfach über ihr Treppenhauslager hinwegsteigen und sie in Ruhe lassen, das kommt mir auch nicht richtig vor. Nach einer Weile ist das Lager geräumt. Ich verlasse hinter ihnen das Haus und überprüfe von außen, ob die Haustür sich aufdrücken lässt. Tut sie nicht.

Später sehe ich vom Balkon aus, wie die Hoodiefrau gegenüber unter einem Gerüst sitzt und sich anscheinend Substanzen zuführt, ich vermute intravenös. Er geht ab und zu rüber, lässt sich anbrabbeln, und irgenwann, als ich mal wieder vom Balkon aus die Lage checke, sind die beiden verschwunden.

Den Hausflur hinterließen sie übrigens rückstandlos sauber. Als wären sie nie da gewesen.

PS: Das irgendwie passende Foto zeigt den Bauzaun an der Taubenstraße.




12 August 2018

Viermal typisch Kiez


1. 

Vor der Spielhalle Novolino stemmt sich eine verwitterte aschblonde Frau aus ihrem Rollstuhl, dreht sich um und schiebt ihre Hosen runter. 

Dann beugt sie sich nach vorne, stützt die Arme auf den Lehnen ihres Gefährtes ab und entleert sich auf den Gehweg. Ihr  Hintern schimmert kalkweiß in der Morgensonne. Später sitzt sie wieder in ihrem Rollstuhl und kümmert sich ausgiebig um ihr rechtes Bein. Der Fuß fehlt. 

2. 

Ein Polizist jagt per pedes einen fliehenden jungen Mann mit blonden Haaren über den Gehweg an der Seilerstraße. Der Peterwagen, aus dem der Polizist zwecks Verfolgung heraussprang, braust rückwärts die Straße runter Richtung Hamburger Berg, den beiden hinterher. 

Als hätte ich eine funktionierende Kristallkugel, so sehe ich vorm geistigen Auge schon voraus, was unweigerlich gleich kommen muss und dann auch exakt so kommt: In dem Moment, als der Wagen auf Höhe des Fliehenden ist, stürzt der Mann blind vor Panik zwischen zwei parkenden Autos hervor auf die Straße – und wird vom Polizeiauto umgefahren. Er fliegt hart auf den Asphalt und bleibt regungslos liegen, zusammgekrümmt wie ein Säugling. 

Der Verfolger beugt sich über ihn und ruft irgendetwas, sein Kollege springt aus dem Wagen und stellt sich dazu. Alles Weitere entzieht sich meiner Kenntnis. 

3. 

Bei der Verlosung des Rechts, eine Dauerkarte für den FC St. Pauli erwerben zu können, bin ich wie jedes Jahr leer ausgegangen. Also checke ich kurz vor Beginn des Heimspiels gegen Darmstadt 98 vorm Millerntorstadion die Schwarzmarktpreise. 

Anbieter sind paradoxerweise meist jene, die ein Schild „Suche Karte“ hochhalten. Mit zweien davon komme ich ins Gespräch, beide flüstern. Einer will 70 Euro, ein anderer 80. Ich mag meinen Sky-Decoder. 

4. 

Irgendjemand spielt im Innenhof dumpf pumpenden Techno, und zwar mitten in der Nacht, es ist bereits nach zwei. Einige Minuten lang liege ich da und warte darauf, dass der stoisch monotone Beat aufhört. 

Schließlich steige ich genervt aus dem Bett und taste mich im Dunkeln zum Schlafzimmerfenster, um das Oberlicht zu schließen. Doch es ist bereits zu. 


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17 Dezember 2014

Arm, aber warm


Früher stand dort mal der an ein Bierglas erinnernde Büroturm der Astra-Brauerei, deswegen hat man das Neubauviertel mitten auf dem Kiez „Brauquartier“ getauft. Allerdings sagt jeder Hamburger „Hä?“, dem man mit diesem einer Werbeagentur entsprungenen Bezeichnung kommt.

Das Zentrum des sogenannten Brauquartiers bildet jedenfalls ein großer Platz nur wenige Dutzend Meter südlich der Reeperbahn. Er wird umsäumt von Aldi, Bäckereien, einer Tierarztpraxis, Büro- und Wohnhäusern und sähe sicher sehr winderzerzaust aus, gäbe es dort irgendetwas außer Glas, Stahl und Steinen.

Gegenüber von Aldi war im Erdgeschoss mal eine Einmannfiliale der Haspa untergebracht. Davon übriggeblieben ist nur noch ein kleiner Raum mit Geldautomat und Kontoauszugsdrucker. Dorthin gehe ich zur Erledigung der entsprechenden Geschäfte weitaus lieber als zu den ungeschützten Außenautomaten auf der Reeperbahn, wo die Huren ihre Freier hinschleppen, wenn die nicht flüssig sind.

Manchmal trifft man in diesem übriggebliebenen Räumchen andere Haspa-Kunden, die ebenfalls Geld oder Auszüge ziehen wollen. Man ignoriert sich still und stumm; schließlich plant man ja etwas sehr Privates, muss es aber leider an einem öffentlichen Ort tun. Das macht die Sache auf sanfte Weise unangenehm, und diese Gefühlslage bewältigt man gewöhnlich mit schweigender Verrichtung.

Als ich heute diesen kleinen Raum im Brauquartier ansteuerte, waren wieder mal Menschen dort drin. Aber keine, die Bankgeschäfte im Sinn hatten. Allem Anschein nach handelte es sich um zwei Obdachlose, denen die Eigenschaften eines beheizten Raums im Winter überzeugende Aufenthaltsargumente geliefert hatten.

Jetzt lagen sie behaglich auf dem Boden herum, der eine neben dem Geldautomaten, der andere neben dem Kontoauszugsdrucker. Wie sie dort hineingelangt waren ohne EC-Karte – deren Besitzwahrscheinlichkeit ich ihnen natürlich nicht gänzlich absprechen möchte, die mir aber recht klein vorkommt –, entzieht sich meiner Kenntnis.

Wahrscheinlich hatten sie eine über Jahre verfeinerte Durchschlüpftechnik angewandt, welche jenem Haspa-Kunden, der unfreiwillig als Türöffner tätig geworden war, durchaus Unbehagen bereitet haben dürfte. Doch das ist Spekulation. Tatsache hingegen: Zwei Männer mit zweifelhafter Körperhygiene lagen zwischen Automaten herum, deren sehr private Nutzung durch mich dadurch augenblicklich verunmöglicht wurde.

Was nun tun? Ich konnte sie wohl kaum hinausexpedieren. Das Hausrecht dort liegt ja bei der Haspa, aber seit sie die Einmannfiliale dichtgemacht und so den Automatenraum jedweder Observation enthoben hat, kriegt die Fehlnutzung durch Obdachlose kein Haspa-Bänker mehr mit.

Aber zur nächsten Filiale gehen und petzen? Auch nicht mein Stil. Zumal es durchaus schäbig gewesen wäre, den beiden Herumliegern das warme Obdach nur deshalb zu entziehen, weil unsereins sich schlecht fühlt beim Ziehen jener Scheinchen, die ihnen für die Anmietung eines privaten warmen Raumes offenkundig fehlen.

Also trollte ich mich geld- und auszugslos – und fotografierte auf dem Weg nach Hause als Übersprungshandlung die ikonografische Kiezkippe. Sie lag in einer Öllache neben der Essohäuserbaustelle. 
 
Vorm Eindringen ins Bankkundenallerheiligste hat sie bestimmt einer der beiden geraucht.

02 Juli 2013

Bettenbattle auf St. Pauli

Wie im April hier im Blog mit Befremden vermerkt, hat jemand Befugtes, wahrscheinlich die Stadt, überm Abluftschacht an der Simon-von-Utrecht-Straße einen großen Blechkasten platziert.

Damit sollten Obdachlose vergrämt werden, was auch ausgezeichnet gelang. Nun hatten zwei unbekannte Jungs eine hübsche, von zivilem Ungehorsam und sozialem Engagement gleichermaßen inspirierte Idee. Sie hebelten, wie in einem Bekennervideo zu sehen ist, die Frontseite des Kastens ab (Sachbeschädigung! Diebstahl!) und bauten zwei fabrikneue Betten rein (illegale Sperrmüllentsorgung!).

Allerdings waren die Betten nicht lange dort. Irgendwer hat sie inzwischen wieder mitgenommen, vielleicht die Stadt. Wenn ja, hätte sie aber bestimmt auch das Frontblech wieder angeschraubt, so dass alles wieder von vorne hätte losgehen können.

Jedenfalls: Seit der Kasten offen und damit das Warmluftgitter erneut zugänglich ist, sitzen jetzt manchmal auch wieder Obdachlose drin. Nur die Querstangen knapp überm Boden stören.


Eine Eisensäge könnte hier Wunder wirken.

10 Mai 2013

Tage des Elends

Was vom Herrentag übrigbleibt, liegt danach gerne mal in der Seilerstraße rum.

Eine Stunde später war die fotografierte Stelle allerdings schon wieder verwaist – wenn man von der langsam trocknenden undefinierbaren Flüssigkeit absah, die breitflächig Richtung Rinnstein rann.

Es sind Tage des Elends, fürwahr. Gestern stand ich am Bahnhof Altona, als ein – wie man so schön sagt – distinguierter Herr um die 70 den Bahnsteig abschritt.

Sein Haar war weiß und schütter, sein Sakko saß gut, er trug einen Regenschirm, Jeans und tadellose Schuhe. So weit, so gut, doch plötzlich war nichts mehr gut.

Denn er beugte sich über den vierlöchrigen Mülleimer, schaute in jede Öffnung, griff hinein, wühlte drin herum, fand nichts und ging zur einfahrenden Bahn, als sei er nichts weiter als ein distinguierter Herr.

Beim Einsteigen bedeutete er höflich einem jüngeren Mann, er möge vor ihm die Bahn betreten, der lehnte ab, bat seinerseits den Herrn, ihm voranzugehen, und der nahm lächelnd an.

Wahrscheinlich stieg er schon an der Holstenstraße wieder aus. Dort gibt es den nächsten Mülleimer.

17 April 2013

Ade Warmluft

Seit Jahren lagern mutmaßlich polnische Obdachlose vor den Plakatwänden an der Simon-von-Utrecht-Straße.

Natürlich sind es nicht die konsumistischen Jubelsprüche, die diesem Ort seine Anziehungskraft für Berber verleihen. Nein, es sind die vergitterten Abluftschächte an der Mauer, aus denen stets wohligwarme Luft strömt.

Im Winter ist das für die Polen eine ganz feine Sache. Denn die Lungenentzündungsgefahr wird sicher nicht höher, wenn man mitten im Frost von Warmluft umfächelt wird. Doch diese beliebte Komfortzone für Wohnsitzlose ist seit neuestem Geschichte.

Irgendwer nämlich hat einen riesigen Blechkasten auf die Schächte gestellt. Ade Warmluft.

Heute waren prompt auch keinerlei Polen mehr zugegen, nur ein paar muffige Klamotten, Taschen und Stützkissen verdämmerten dort still den Frühlingstag. Wer für die Baumaßnahme verantwortlich ist, ob die Stadt oder der Eigentümer der Abluftschächte, entzieht sich meiner Kenntnis.

Dass der Blechkasten aber erst aufgestellt wurde, als der härteste Winter vorbei war, muss man wohl unter Feinfühligkeit verbuchen.

12 Februar 2013

Kiezpoeten unter sich

Wir sitzen in der Kiezbar 3 Freunde in der Clemens-Schulz-Straße (s. unpassendes Beispielfoto), als ein Hinz-&-Kunzt-Verkäufer hereinkommt und seine Zeitschrift anbietet. Ich möchte ihm eine abkaufen und krame nach Kleingeld.

„Darf ich Sie um eine kleine Spende bitten?“, fragt der Mann. Er ist ungefähr in meinem Alter und wirkt nicht sonderlich abgerissen. Nur seine dentale Situation war sicher schon mal besser.

Ich nicke, komme auf ungefähr zweiachtzig, reiche sie ihm und harre der Ausgabe Hinz & Kunzt. Allerdings hat der Verkäufer, wie er nur moderat verdruckst verdeutlicht, das mit der Spende etwas anders gemeint.

Er möchte die Zeitschrift nämlich am liebsten gar nicht herausrücken („Die kann ich woanders noch gut gebrauchen“), sondern für die Spende lieber eine immaterielle Gegenleistung erbringen.

„Kann ich Ihnen stattdessen etwas vortragen?“, fragt er, „ein Lied vielleicht oder ein Gedicht?“ Das Angebot überzeugt mich sofort. Angesichts des mittelmäßigen HipHops, den die ansonsten verehrungswürdige Barkeeperin heute aufgelegt hat, scheint mir ein Lied allerdings zu große Dissonanzgefahren zu bergen, weshalb ich mich für ein Gedicht entscheide.

Und nicht nur deswegen. Sondern auch wegen meiner frühen Vergangenheit als gescheiterter Lyriker („Auf Wiedersehen, Haferhalm“, Hugendubel, 1984, ein Sammelband mit praktisch ausschließlich schlechten Gedichten, was das Büchlein im nostalgisch verbrämten Rückblick zumindest sehr homogen erscheinen lässt. Immerhin war es im Offsetverfahren auf Sympathikus-Werkdruckpapier gedruckt, holzfrei weiß mit zweifachem Volumen.).

„Ein fremdes oder ein selbstverfasstes?“, fragt der Hinz-&-Kunzt-Verkäufer, der die Hinz & Kunzt eigentlich gar nicht verkaufen will. Natürlich das selbstverfasste.
 

Augenblicklich beginnt er mit routiniert fester Stimme ein Poem über das Wesen des Künstlertums zu deklamieren, dessen vollendetes Versmaß mir Ver- und Bewunderung abringt.

Nach einem herzlichen Lob geht er zufrieden hinaus in die Kieznacht, in die nächste Bar, zum nächsten Mildgestimmten, der eine Spende rausrückt und ihm die Zeitung dennoch lässt.

So was erlebt man nur auf St. Pauli. Und auch wenn die Sozialromantiker unter Ihnen jetzt wieder mal aufgeregt und rotwangig mit den Flügeln flattern: So richtig intensiv gelesen habe ich die Hinz & Kunzt eh noch nie.


19 Dezember 2012

Fundstücke (169): Die Reeperbahn im Winter





Alles liegt – auf dem Gehweg undefinierbarer Sperrmüll, am „Geiz Club“ ein Obdachloser und außerdem Titten-Tinas Kieztour brach (worüber uns der aufgeklebte weiße Zettel informiert).

Kein Zweifel: Die Reeperbahn hat zurzeit den Blues. 


Und ich wenigstens ein paar neue Fotos im Kasten.

Mehr aber auch nicht.


24 Januar 2012

Wo sind die Polen?



Unter den Werbeflächen an der Simon-von-Utrecht-Straße, wo seit Jahren die polnischen Obdachlosen lagern, herrscht heute ausnahmsweise mal wieder Ödnis.

Die Männer sind werweißwohin. Wo sonst die Werbemotive bisweilen zynische Kommentare zur Lage der unter ihnen lagernden Elenden abgeben, regiert nun das blanke Nichts.

Denn nicht nur die Menschen sind verschwunden, auch die Plakatwände haben heute keine Botschaft – ganz so, als wären beide, die Obdachlosen und die Reklame, aufeinander angewiesen, als wären sie nur gemeinsam denkbar, und wenn die einen verschwinden, auch die andere gar nicht erst auftaucht.

Die drei Plakatwände wirkten – man verzeihe mir die pathetische Anwandlung – wie das Triptychon einer großen Abwesenheit.

Höchste Zeit, dass die Polen wiederkommen.

19 Januar 2012

Befremdlich vertraut

Auf dem untersten Absatz im Treppenhaus, ein paar Meter hinter der Eingangstür, sitzt ein Mann. Er ist hohlwangig, seine Augen liegen tief versteckt im hageren Schädel, sein Bart ist so stoppelig wie seine Zahnreihen lückenhaft.

In der linken Hand hat der Mann eine Fernsehzeitung und in der rechten eine Packung Jacobs Krönung. Er riecht daran und macht „Ahhh!“.

Ein befremdliches Gebaren, doch auch wenn das jetzt paradox klingt: Gerade das Befremdliche ist einem hier auf St. Pauli besonders vertraut.

Wie auch immer: Erst als ich diesen an einer Kaffeepackung schnuppernden Liederling unter Entbietung eines kurz geknurrten Standard-„Moin“ passiert und unser Haus verlassen habe, dämmert mir das Wichtigste.

Er wohnt hier gar nicht. Aber er sitzt in unserem Hausflur. Und riecht an einer Packung Jacobs Krönung und macht „Ahhh!“.

Das erfordert Maßnahmen, doch zuerst wollen die Frühstücksbrötchen beschafft werden. Unterwegs überlege ich, mit welchen wohlgesetzten, gleichwohl unmissverständlichen und mit der nötigen Grundschärfe im Ton versehenen Worten ich ihn bei meiner Rückkehr hinausexpedieren werde.

Einige Minuten später steht die Ansprache wie eine Eins – doch als ich zurückkomme, sehe ich den Mann Richtung Millerntorplatz davonschlurfen.

Wie er in unser Haus gekommen ist, welche Bedeutung die Kombi TV-Zeitschrift und Kaffeepackung hat bei einem Kantonisten, der mit hoher Wahrscheinlichkeit weder über ein Fernsehgerät noch über eine Kaffeemaschine verfügt:

Wir werden es nie erfahren.

12 Oktober 2011

Nach Hause ist es am schönsten



Auf dem täglichen Heimweg, in der Louise-Schröder-Straße, liegt eine Kneipe, deren Name mir noch nie zuvor aufgefallen ist.

Vielleicht liegt es daran, dass ich sonst immer auf dem Fahrrad vorüberhusche wie Superman auf dem Weg zur Weltrettung, heute allerdings regenbedingt per pedes unterwegs bin; vielleicht ist sie auch einfach neu, das passiert rund um den Kiez ja ständig.

Jedenfalls heißt die Kneipe „Filmriss“, was ein ausnehmend schöner, weil grundehrlicher Name ist. Damit kündigt der Kneipier bereits per Leuchtschild überm Eingang unverblümt an, welche Konsumbereitschaft er generell und verdammt noch mal von jedem Gast erwartet. Nicht nur aus diesem Grund mied ich den Eintritt sorgsam.

Nur wenige hundert Meter weiter, immer noch auf dem täglichen Heimweg, sind dann jene zu sehen, die Kaschemmen wie den Filmriss in ihrem Leben mindestens einmal zu oft aufgesucht haben. Sie stehen gruppiert vor der Obdachlosenfütterstelle und warten auf das Servicepersonal. Es sind Nonnen.

Noch ein Stückchen weiter auf meinem täglichen Weg nach Hause folgt die Schmuckstraße. Bei ihr war Nomen noch nie Omen, sie müsste eher Schmuddelstraße heißen.

Dort jedenfalls, gegenüber den heruntergekommenen und ständig weiter herunterkommenden Häusern im östlichen Abschnitt, in denen die Ladyboys ihre Zimmer haben, steht heute ein ausnehmend bauchiger Mann mit Schiebermütze und versucht, möglichst unbeteiligt und saumselig auszusehen.

Die Hände in den Taschen, den Schnauzer keck im Wind, schaut er auffällig unauffällig von links nach rechts, von hinten nach vorn – und hofft gewiss, eine der Transen würde sich endlich zeigen, damit er in konspirative Vertragsverhandlungen einsteigen kann.

Doch es ist zu früh, guter Mann, erst mit Einbruch der Dunkelheit kommen die Ladyboys gewöhnlich aus den heruntergekommenen und ständig weiter herunterkommenden Häusern der Schmuckstraße, die eigentlich Schmuddelstraße heißen sollte.

Doch ob der saumselig tuende Schnauzer dafür die Geduld aufbringt, kann ich heute nicht mal heimlich überprüfen: Meine Physiotherapeutin wartet.

PS: Ich habe nicht nur vergessen, ein Schmuckstraßenfoto anzufertigen, sondern nicht mal ein altes im Bestand. Deshalb heute ein (farblich nicht mal ganz unpassendes) aus der direkt benachbarten Talstraße.



05 April 2011

Ein toter Hase

Der dicke obdachlose Langbart trägt einen Filzzopf bis auf Rippenhöhe. In seinem Einkaufswagen, den er irgendwo konfisziert hat, stapeln sich prallvolle Pennytüten.

Wir stehen in der Königstraße an einer Fußgängerampel, als der verwahrloste Riese uns anspricht. Denn er hat eine Information für uns.

„Da liegt ein toter Hase“, sagt er und grinst über beide zugewucherte Backen, dass der Filzzopf wackelt.

Dann zückt er ein Teppichmesser – und schabt vorsichtig den Aufkleber „Ultra St. Pauli“ von einem Vorfahrtschild.

In einigen Metern Entfernung liegt wirklich ein toter Hase, mitten auf dem Gehweg. Vielleicht auch ein Kaninchen.

Ein verstohlener Seitenblick auf sein Teppichmesser zeigt keine Blutflecken. Dann wird die Ampel grün.


02 März 2011

Der Bettelbär



Nachdem Dr. Angela Merkel gestern erwartungsgemäß meinem Gesuch stattgab, darf man nun leicht beruhigt die Aufmerksamkeit wieder dem Kiez zuwenden.

Dort, an üblicher Stelle in der Simon-von-Utrecht-Straße, hängt seit neuestem ein am Mauergitter aufgeknüpfter Bettelbär. Er hält tapfer die Stellung, wenn die polnischen Obdachlosen gerade woanders sind.

Ich weiß nicht, wie weit es gewöhnlich her ist mit Selbstdisziplin und Anstand zufällig vorbeikommender Bettelkonkurrenten, doch ich könnte mir schon vorstellen, dass man in einer solch prekären Situation dem Bären en passant eher was aus dem Becher nimmt, als etwas mühsam Selbsterbetteltes hineinzuwerfen.

Kurz: Obgleich sein mitleiderregendes Aufgeknüpftsein an der Simon-von-Utrecht-Straße durchaus die Herzen von Passanten zu rühren imstande sein dürfte, zweifle ich doch aus geschilderten Gründen an seinem Nettoerfolg am Ende des Tages.

Als ich abends erneut dort vorbeikam, war er denn auch verärgert abgehängt worden und saß jetzt schmollend abseits der zurückgekehrten Polengruppe an der Mauer.

Mehr ist übrigens auch nicht dran an dieser Pseudogeschichte. Aber das haben Sie sicher schon geahnt.



15 Februar 2011

Ausnahmesituation



Wann immer ich in den vergangenen Jahren das Obdachlosenlager an der Simon-von-Utrecht fotografierte, gewann das Motiv seinen widersprüchlichen Reiz aus einer ganz speziellen Wechselwirkung zwischen Reklame und Elend.

Meist schien das Werbemotiv auf geradezu absichtlich zynische Weise das Schicksal der Heimatlosen zu seinen Füßen zu kommentieren (zum Beispiel hier, hier und hier). Heute aber motivierte mich erstmals genau das Gegenteil zur fotografischen Dokumentation der Szenerie.

Denn ausgerechnet die Obdachlosenzeitung Hinz & Kunzt hat diesen Werbeplatz gebucht, und endlich ist die Gesamtsituation dort harmonisch und homogen. Kein Hintersinn, kein Sarkasmus, keine Bösartigkeit lädt die Lage mit Symbolik und Sozialkritik auf. Man sieht nur eine Werbung, die von der Realität bestätigt wird und umgekehrt.

Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose.

Der polnische Obdachlose – nennen wir ihn Jaczek A. – war übrigens damit einverstanden, fotografiert zu werden. Trotzdem war es mir sehr unangenehm, die Linse auf ihn zu richten. Sie verwandelte sich dabei unversehens in eine Waffe, die auf einen Schutz- und Wehrlosen gerichtet war.

Trotzdem schien mir das Motiv wichtig genug, um mich über die Obszönität der Situation hinwegzusetzen. Denn wenn Jaczek A. schon mal nicht von einem Werbeslogan für Wohlstandsbürger düpiert und veralbert wird, dann sollte das ebenfalls dokumentiert werden.

Es wird eh die Ausnahme bleiben, so viel ist sicher. Demnächst wirbt an dieser Stelle wieder irgendjemand für „Kokowääh“, Flatratetarife oder den Heidepark Soltau.

Vielleicht auch für wahnsinnig günstige Baukredite.

18 Dezember 2010

Lieblingsorte (6): Diesmal von jemand anderem



Der angestammte Lagerplatz der obdachlosen Polen, die hier im Blog schon mehrfach Erwähnung fanden (1, 2, 3), ist zurzeit verwaist und eingeschneit.

Nur ein Koffer mit Utensilien, den vorsorglich niemand anrührt oder gar wegräumt, hält einsam die Stellung. Somit verpassen die polnischen Gesellen den ganz speziellen Sarkasmus der ihren Lagerplatz von jeher dominierenden Werbefläche.

Doch wahrscheinlich würde sie diesen Claim genauso stolz und stoisch ignorieren wie alle anderen, die bisher von desinteressierten Plakatieren dort hingepappt wurden.

Selbst wenn sie ihn lesen könnten.


15 Oktober 2010

„Du Penner!“



In den Zeisehallen (hier ein beschwichtigendes Foto vom Gehweg am Hintereingang) tobt wieder mal ein lautstarker Streit zwischen drei Pennern und einem Sicherheitsmann.

Plötzlich brüllt einer der Penner dem Sicherheitsmann ins Gesicht: „Du Penner!“

Ich bin mir nicht sicher, ob ihm die Ironie der Situation sofort bewusst war. Dem Sicherheitsmann aber schon: Er lächelte fein.



01 September 2010

Die gemütlichsten Ecken von St. Pauli (33): Das verwaiste Freilufthotel



An der Westseite der Endoklinik nahm im vergangenen Jahr der Pole Arkadiusz Kossar eine Weile lang das „Obdachlos Hotel“ in Besitz. Genau genommen hatte er die Brache mit Ruinenresten selbst so getauft.

Es war ziemlich nett dort, mit Blumenvase, Tisch und Sesseln – also fast wie im gutbürgerlichen Wohnzimmer, nur halt draußen. Irgendwann musste er weg, der Arkadiusz, doch die Endoklinik hat sein „Obdachlos Hotel“ seither praktisch im Urzustand belassen. Die halbherzigen Bemühungen führten bislang nur zu einem Bauzaun, und auch der hat schon wieder gelitten unterm stummen Vandalismus des Prekariats – oder unter besoffenen BMW-Fahrern, die den Zaun als externe Bremse zweckentfremdeten.

Ein melancholischer Ort jedenfalls, den Arkadiusz Kossar sicher gern noch ein Jährchen länger in Beschlag genommen hätte, um von dort
aus täglich gewissenhaft seiner Pfandflaschensammelleidenschaft nachzugehen.

Immerhin sind seine Aufschriften übriggeblieben, natürlich auch – direkt unter dem Wort „Hotel“ – ein „Ave Maria“. Das musste sein, ob obdachlos oder nicht. Schließlich ist er Pole, die teilen nun mal alle ein christliches Gen, nicht wahr.

07 August 2010

Begegnung mit einem Vampir (oder Zombie)



Ein Tag der Merkwürdigkeiten – wobei die unvermittelte Ergänzung zur Anweisung des Hausarztes nicht mal die größte darstellte.

Denn am merkwürdigsten wurde es abends im indischen Restaurant Zala in der Rothenbaumchaussee. Ich erhielt als Wechselgeld Münzen – und die waren erschreckenderweise eiskalt.

Der Kellner verließ freundlich lächelnd den Tisch, während ich die Münzen rasch in der Hosentasche verwschwinden ließ, wo sie mir allerdings sofort durch den Stoff Gefrierbrandflecken in den Oberschenkel stanzten. Derweil ratterten mir die wichtigsten Fragen durch den Kopf, die dieser Vorfall aufwarf:

Lagern sie hier im Zala die Münzen etwa in der Tiefkühltruhe, bevor sie sie rausgeben? Oder war es die Hand des Kellners, die den Temperatursturz des Metalls bewirkte – und was bedeutete das für die Einordnung des Mannes in die Fauna?

Vielleicht gibt es ja doch Wesen, die menschlich wirken und doch keine Warmblüter sind. Seit dem Zala-Besuch scheint mir die Existenz von Vampiren und Zombies wieder deutlich plausibler.

Die Münzen habe ich heute an zwei obdachlose Russen im Brauquartier verschenkt. Sicher ist sicher.



03 Juli 2010

Die gemütlichsten Ecken von St. Pauli (31)



Immer mal wieder gibt es auf dem Kiez tragischtraurige Wechselwirkungen, wenn die gezackten Ränder zweier sich völlig fremder Welten aneinander vorbeischrammen.

Dabei entstehen schrille Dissonanzen, die allerdings manchmal fast den Rang einer Botschaft gewinnen. Wie hier an der Reeperbahn Ecke Talstraße.

27 Mai 2010

Drei Kopfnüsse, nicht acht



Schon hoch oben von der Balustrade aus hört man, dass der Streit unten in der Zeisehalle nicht von schlechten Eltern ist. Es wird gebrüllt und geschimpft, doch es hallt zu sehr, um einzelne Worte zu verstehen.

Die Quelle des Streits liegt exakt dort, wo mein Fahrrad angebunden ist. Dort lagern nämlich auch dauerhaft drei Obdachlose, und sie scheinen Probleme zu haben. Oder zu machen.

Als ich zum Fahrrad komme, steht ein Sicherheitsmann telefonierend in der Nähe, während die Obdachlosen zetern. Keine Ahnung, worum es geht, doch die Sache scheint ernst.

„Dem verpass ich drei Kopfnüsse“, blökt der einarmige Zauselbart mit den schlechten Zähnen, „dann liegt der tot am Boden!“

Warum er exakt drei Kopfnüsse verteilen will und nicht zwei schon reichen oder es nicht vielleicht sogar acht sein müssen; warum er glaubt, als ungefähr 70-jähriges Hutzelmännchen einem drahtigen Sicherheitsmann aus dem fernöstlichen Sprachraum gefährlich werden zu können: keine Ahnung. Wahrscheinlich Erfahrungswerte.

Die Folgen des Streites werden jedenfalls bereits am Folgetag deutlich: Das Obdachlosentrio musste die Zeisehalle räumen, ihr Lagerplatz (Foto) ist verwaist. Die Hausordnung hatte ihren Aufenthalt eh schon immer untersagt, doch dieses Verbot wurde nie durchgesetzt. Nun aber, nach dem Streit mit dem Sicherheitsmann und der Kopfnussdrohung, wurde aus der Duldung ein Platzverweis.

Unschön für die drei, doch ein Gutes hat das ja: Der Platz unter der Wendeltreppe wird hinfort von olfaktorisch fragwürdigen Körperausscheidungen verschont bleiben. Dachte ich.

Die heute dort wie üblich anzutreffende taufrische Riesenlache muss wohl als Widerlegung gelten.


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