09 November 2009

Mein Mauerbröckchen



Voilà: das schönste Stück von meinen sieben Bröckchen Berliner Mauer, die ich einst persönlich vor Ort einsammelte.

Seit 1989 gingen diese historischen Artefakte bei mittlerweile vier Umzügen nie verloren, obwohl sie durchweg nur lose herumlagen, meist am Rand irgendeines Regalbretts.

Das hat bestimmt etwas zu bedeuten, etwas Wichtiges. Aber ich komme gerade nicht drauf.

Bei Ebay, das habe ich gecheckt, brächte so ein Bröckchen keine zehn Euro; selbst mit Echtheitszertifikat wäre da kaum mehr rauszuholen. Das ist enttäuschend und hat bestimmt auch irgendetwas zu bedeuten, etwas Wichtiges.

Zum Tag der Deutschen Einheit erzähle ich vielleicht die Geschichte, wie ich mal aus purer Dummheit von der Stasi verhört wurde.



Auf und nieder, immer wieder

Immer Sonntagsmorgens gegen 10 besorge ich die Tageszeitung am Kiosk im U-Bahnhof St. Pauli.

Um diese Zeit ist der Bahnhof ein merkwürdiger Ort. Auf den Metallbänken hängen schief und schräg die letzten Opfer der Nacht. Sie schlafen in krummen Stellungen und betteln darum, beklaut zu werden.

Meist stehen ein paar junge Typen mit Bierbüchsen in der Nähe; sie haben zwölf Stunden Kiez in den Knochen und genug Promille im Blut, um es ratsam erscheinen zu lassen, sie weiträumig zu umgehen. Manchmal warten am Gleis auch schon ein, zwei Rentnergrüppchen aus dem Um- oder Ausland (= alles südlich von Niedersachsen) aufgeregt auf die U3, weil die Bahn sie zu den Landungsbrücken bringt, wohin sie auch binnen zehn Minuten laufen könnten.

Auf einer der Bänke hockt in der Regel zudem eine vor wenigen Stunden noch schwer aufgebrezelte, doch jetzt immens derangierte Königin der Nacht. Die von heute morgen trug Schwarz, von den Haaren über den Mini bis hinunter zu den Highheels, und fast wäre sie noch als repräsentabel durchgegangen, ruhte ihr rechter Fuß nicht nach außen abgeknickt auf dem Boden, während ihr linker weiterhin aufrecht auf dem Stiletto balancierte.

Es sind oft die Details, die Geschehenes andeuten, auch wenn man nie dahinterkommen wird, was genau zu abgeknickten Füßen oder schiefem Tiefschlaf auf Metallbänken geführt haben mag im Lauf einer St.-Pauli-Nacht.

Heute komplettierte eine Reinigungskraft das Ensemble. Ein junger Afrikaner mit orange leuchtender Schutzweste säuberte die Rolltreppe. Er fuhr hoch und wischte dabei die metallenen Segmente der Seitenverkleidungen ab, dann schritt er wie traumverloren die Fußtreppe wieder hinunter, wandte sich nach links und reiste erneut wischend und putzend nach oben.

So ging es in einem fort, und es hatte weniger etwas von Sisyphus als von einem souverän aus- und aufgeführten Körpermantra, weil der Mann es verstand, seinen berechtigten Widerwillen gegen diese Art Tätigkeit an einem gottverdammten Sonntagmorgen zu überführen in lässig ausgestellte Ungerührtheit.

All das, die Besoffenen und die Gefährlichen, die Schnarcher, die Rentner und die Reiniger, werden natürlich unablässig akustisch umspült von Händel, Mozart & Co.

Aber das sagte ich ja bereits.


07 November 2009

Die gesammelten Irritationen des Tages



In der Weinstube Zur Traube in Ottensen lassen wir uns Wirsingrouladen schmecken, die bedauerlicherweise mit stark überwürztem Rehhack gefüllt sind.

Die weitaus nachhaltigere Irritation ereilt mich allerdings auf der Herrentoilette: Dort stehen auf einer Ablage über der Kloschüssel Mikadostäbe in einer kleinen Glasvase, die zu einem Drittel mit Wasser gefüllt ist. Mikadostäbe.


Wenn Zahnstocher auf dem Tisch stehen, kann ich ihre Funktion unmittelbar nachvollziehen. Aber bei Mikadostäben auf dem Klo?

Es läge nahe, von den Zahnstochern ausgehend analog rückzuschließen auf eventuelle Einsatzgebiete ihrer großen Brüder, doch hält mich nicht zuletzt die im Gastraum überdeutlich ausgestellte Gutbürgerlichkeit der Traube davon ab, diesen Gedanken bis zum unappetitlichen Schluss durchzudeklinieren.

Leider habe ich die Kamera nicht dabei, sonst hätte ich das Ganze fotografisch festgehalten und zu einer längst fälligen weiteren Folge der Herrenkloserie ausgebaut. So bleibt mir nur, die dritte Irritation des Tages zu dokumentieren; chronologisch gesehen war sie sogar die erste.

Sie suchte mich mittags heim. Als ich in meine Espressotasse blickte, schien die Crema zu meinem namenlosen Entsetzen das Jack-Wolfskin-Logo nachbilden zu wollen. Auf dem Foto sieht man das leider praktisch überhaupt nicht.


Jedenfalls half nur die sofortige Vernichtung aller Beweise. Und darin bin ich zum Glück spitze.


06 November 2009

Modeirrtümer des 21. Jahrhunderts (2)



Heterogenität ist ein wichtiger Freakfaktor auf dem Kiez, das bestätigt sich tagtäglich.

Heute Abend zum Beispiel traf ich beim Konzert einen glatzköpfigen Mann, der hatte sich auf dem Kopf mit Hilfe eines breiten, komplett umlaufenden Stofftuchs seine hochgestellte Brille festgezurrt, auf der oben ein blinkendes Fahrradrücklicht befestigt war.

Seines Freaktums schien er sich dennoch nicht bewusst zu sein. Und warum auch? Schließlich wurde er keinesfalls geächtet oder geschmäht, wie es zweifellos zum Beispiel in Alsenbrück-Langmeil der Fall gewesen wäre, sondern war trotz Blinklicht bestens in eine vielköpfige Sozialgemeinschaft eingebunden, mit der er frohgemut zechte und schäkerte.

Auf die Frau, die an der S-Bahn Reeperbahn vor mir die Rolltreppe betrat, traf der
Freakfaktor der Heterogenität ebenfalls zu. Ihr knielanger Pelz wirkte in den Augen eines Laien (= moi) verteufelt echt. Doch wenn das wirklich der Fall war: Was brachte sie bloß auf die kuriose Idee, diesen wahrscheinlich im vierstelligen Eurobereich angesiedelten Echtpelz mit weißen Michael-Jackson-Gedächtnissocken und Turnschuhen zu kombinieren?

Auch die in Militärtarnoptik gemusterte Tasche links kontrastierte schroff mit dem Mantel, während die goldene rechts sich farblich allenfalls an den Teint der unbedeckten Waden anschmiegte, nicht aber an die Fußbekleidung.

Während ich mit meinem Fahrrad hinter ihr hochtransportiert wurde, friemelte ich die Kamera hervor, um diesen denkwürdigen Anblick zu verewigen, versemmelte aber die Deaktivierung des Blitzes. Mir war das enorm peinlich, doch die Pelzdame merkte zum Glück nichts.

Trotzdem, ich muss vorsichtiger sein.

05 November 2009

Wie ich mich mal gegen Schweinegrippe habe impfen lassen

Wenn wirklich die Pandemie kommen sollte, dann gnade uns Rösler. Denn schon jetzt ist das Gesundheitsamt heillos überfordert, dabei verlieren sich gerade mal sechs Leutchen in der Empfangshalle.

Darunter der Franke und ich: Wir wollen uns impfen lassen. Zwei wuselköpfige Damen händigen uns Formulare aus, die wir ausfüllen sollen. Kugelschreiber haben sie aber leider keine. Schade. Eine impfwillige Kundin, die ihr Ausfüllpensum schon erledigt hat, bietet mir ihren an – unter der Maßgabe, ihn nachher wieder zurückzugeben. Ich werde sie nie mehr wiedersehen.

Wir füllen unsere Formulare aus. Der Franke braucht allein drei Minuten und zwei Extrazeilen, um seine ganzen Allergien niederzuschreiben. Bin ehrlich verwundert, dass „Atemluft“ auf seiner Liste fehlt.

Danach erhalten wir Wartemarken. Allerdings behalten die wuselköpfigen Damen kein Pendant mit der gleichen Nummer, um den Wartemarkenstapel später abarbeiten zu können, was mich erstaunt; außerdem schicken sie die Leute in verschiedene Gebäudetrakte, was mich noch mehr erstaunt. Ich bin sehr neugierig, welchen genialen neuen Kniff das Gesundheitsamt bezüglich der Wartemarken ausgetüftelt hat.

Der Franke erhält eine Impfersatzbescheinigung. „Warum haben Sie ihm jetzt so eine Impfersatzbescheinigung ausgehändigt und mir nicht?“, frage ich beleidigt. „Weil ich so tüddelig bin?“, fragt die Gesundheitsamtsdame rhetorisch zurück. Gute Theorie.

Oben, vor Raum 3, sitzen vier schweigende Männer und warten. Erneut huschen wuselköpfige Damen hin und her, aber andere. Dialogfetzen:
„Dr. XY schläft noch. Meinst du, ich soll ihn anrufen?“
„Hm, ich weiß nicht. Vielleicht ja.“

Man schließt eine Tür auf und wieder zu, man läuft ziellos über die Gänge, man gibt sich ostentativ überfordert. Dabei ist doch noch gar nichts passiert, keine Pandemie weit und breit, nur sechs Impfwillige in Wartestellung. Und nicht 6000.

Irgendwann tritt ein Weißkittel aus einem der Räume und fragt: „Wer ist der Nächste?“ Tja, wenn wir sechs das wüssten. Alle schauen ratlos auf ihre Wartemarken. Spätestens jetzt müsste das geballte behördliche Organisationsgenie sich Bahn brechen.

„Also, ich hab 163“, murmelt der tatterige Rentner neben mir und schaut sich unsicher um. Meine 171 kann gegen diese Superzahl nicht anstinken. „Irgendjemand niedriger als 163?“, ruft der Weißkittel in die Runde und stützt dabei die Arme herausfordernd in die Seiten. Schweigen im Gang, der Rentner wackelt in den Impfraum.

Das Wartemarkensystem scheint noch nicht ganz ausgereift. Vielleicht aber bis zur Pandemie.

Endlich bin ich dran. Zwischen dem Rentner und mir hatte noch einer die 167, die restlichen Zahlen fehlten, doch das verwundert nicht, schließlich wurde wir von der tüddeligen Dame in der Halle in verschiedene Gebäudetrakte geschickt.

Der Arzt fragt, ob ich gegen Hühnereiweiß allergisch sei. Mein schnippischer Gedanke, „Das geht doch aus dem Formular hervor, das ich mit einem geliehenen Kuli ausgefüllt habe, den ich nicht mehr zurückgeben kann, weil ich seine Besitzerin nie mehr wiedersehen werde, ehe mir eine Wartemarke ausgehändigt wurde, die praktisch keine Funktion hat“, bleibt fest verschlossen in meinem Kopf, und ich verneine.

Er desinfiziert meinen Oberarm und haut mir eine volle Kanüle Pandemrix rein. Das kleine sterile Stoffquadrat, das er beim Herausziehen der Spritze auf die Wunde drücken will, fällt ihm leider runter.

„Nein, nein“, deutet er mein kurzes Zucken falsch, „das hebe ich auf.“ Allerdings kommt er nicht ran, weil er immer noch die Spritze festhalten muss, die tief in meinem Oberarm steckt. Ratlos wandert sein Blick über den Tisch, an dem wir sitzen. Nirgends ein weiteres Stoffquadrat.

Schweigend sitzen wir da, die Spritze ragt aus meinem Arm, der Arzt schaut unstet umher. Irgendwann reicht ihm eine der wuselköpfigen Damen ein Ersatztüchlein, jetzt kann er die Spritze rausziehen.

Auf dem Gang treffe ich den Franken wieder. Auch ihn haben sie nach der Hühnereiweißallergie gefragt, aber wohl aus anderen Gründen: Sie hatten bestimmt keine Lust, seine enzyklopädische Tier-, Pollen- und Gräserliste Posten für Posten durchzugehen.

Heute war ein Arbeitskollege ebenfalls dort zum Impfen. Während der Behandlung kam eine der wuselköpfigen Damen herein und fragte: „Sag mal, was ist denn das für eine Charge hier? Die sieht doch ganz anders aus als die von heute morgen!“

Die Pandemie kann kommen.


03 November 2009

Modeirrtümer des 21. Jahrhunderts (1)

Kann man sich eigentlich auch als heterosexueller Mann vom Anblick eines anderen Mannes sexuell belästigt fühlen?

Nicht erst seit heute kann ich diese Frage mit großer Eindeutigkeit beantworten.

Die gemütlichsten Ecken von St. Pauli (12)



Eingangs der herbstvernebelten Reeperbahn, an der Hausnummer 1, sieht es zurzeit ein wenig aus wie am Ground Zero anno 2001. Nur dass hier gerade das so hässliche wie traditionsreiche Gebäude, in dem einst der Mojo Club legendär wurde, dran glauben muss – und keine Twin Towers.

Dennoch wirkt die derzeitige Optik präventiv kongenial, denn an genau dieser Stelle soll demnächst in der Tat ein Doppelturm entstehen.

Klingt makaber, liegt aber weder am Abrissunternehmen noch am Architekten, sondern ausschließlich an der degenerierten Fantasie eines berüchtigten Kiezbloggers.

02 November 2009

Auf dem Fischmarkt



Es ist schon nach halb 10, auf dem Fischmarkt herrscht Ausverkaufswahnsinn.

Seit 9 ist zwar offiziell Schluss, doch erst danach steigern sich die Händler hinein in blanke Hysterie. Allerdings klafft oft eine Lücke zwischen der Warenqualität und dem Enthusiasmus des Anpreisens.

Ich vermute ja schon länger, dass die Händler bereits seit 7 Uhr heimlich Gammelgemüse und Quetschobst hinterm Wagen gesammelt haben, um alles pünktlich zur Marktschließung hervorzuholen und in Kisten zu 10 Euro verramschen.

Amüsiert lassen wir uns durch die wogenden Touristenmassen treiben. Die Händler kreischen und brüllen, ihr Adrenalinspiegel schwappt hoch wie die Elbe bei einer steifen Westbrise, nur Aale-Dieters Stimme ist gerade noch ein armseliges Krächzen, und deshalb schafft er es auch nicht mehr, eine Menschentraube an seinen Wagen zu fesseln.

Es geht gegen 10. Die Marktleitung hat schon dreimal durchgesagt, der Verkauf sei sofort einzustellen; damit treibt sie die Händler allerdings nur zu immer neuen Höchstleistungen. Wir hoffen daher auf günstigen Fisch in allerletzter Minute, vor allem auf Lachs, doch was man uns in Rahmen von 15-Euro-Paketen andrehen will, ist nur unwesentlich weit entfernt von Möwenfutter. Und beim Lachs lassen sie gar nicht nach; ungerührt nennen uns die Händler die alten Kilopreise, während sie weiter Rotbarschberge vor den mit Euroscheinen herumwedelnden Touristen auftürmen.

Wir haben unseren Schnäppchenplan praktisch schon aufgegeben, als wir am letzten Fischstand vor der Lakritz- und Nippesmeile die bereits fertig zusammengestellte Traumkonstellation entdecken: mehrere Lachsfilets, Schwertfisch, Seeteufel, Thun – und natürlich auch ein erhebliches Quantum Rotbarsch, doch das Leben ist nun mal kein Wunschkonzert.

Wir schlagen zu: viereinhalb Kilo prächtigen Fisch für 15 Euro. Ein Kalmar war nicht dabei, doch der befand sich ja auch auf der gewiss interessant duftenden Wollmütze des abgebildeten Händlers, der schon mal mit Moby Dick geboxt haben muss; anders ist der kecke Knick in seiner Nase kaum zu erklären.


01 November 2009

Datenschutzgründe!



Trotz Mailbestätigung stehe ich mal wieder nicht auf der Gästeliste.

Nicht dass ich darauf bestünde, bei jedweder Anfrage stets auf ein begeistertes „Natürlich! Komm vorbei! Welche Farbnuance präferierst du beim Roten Teppich?“ zählen würde, zumal ein Konzertbesuch – gerade einer, der mit meinem persönlichen Geschmack disharmoniert – letztlich ja so etwas wie Arbeit ist.

Ich kann mir wahrlich interessantere Freizeitbeschäftigungen vorstellen, als um Mitternacht mit besoffenen berufsbegeisterten Promotern halbtaub Smalltalk halten zu müssen. Doch wenn ich schon mal die Bestätigung erhalten habe, möchte ich auch gerne draufstehen auf der Gästeliste; schließlich habe ich mir extra dafür den Abend reserviert, anstatt mit Ms. Columbo essen zu gehen oder einen besonders ausführlichen und eventuell endlich mal unterhaltsamen Blogeintrag zu verfassen.

Doch nein, hier, kurz vorm Treppenhaus des Uebel & Gefährlich, steh ich nun, und die eigens für zuständig erklärte Hupfdohle hinterm provisorischen Pult bescheidet mir nach dreimaligem Drüberschauen mit nur halb gespielter Verzweiflung meine undisputable Absenz auf der Gästeliste. Ich könne ja, schlägt sie mit aufrichtigem Mitgefühl vor, den Veranstalter anrufen, um die Sache zu klären. Dessen Telefonnummer aber habe ich zufällig nicht dabei. Sie auch nicht.

Also wende ich mich an einen der beiden Sicherheitsmänner, die mich eh schon skeptisch beobachten. Immerhin kann es sein, dass die narzisstische Kränkung, die zwingend mit einer überraschenden Absenz auf der Gästeliste einhergeht, zu sozial inkomptabiblen Verhaltensweisen wie Motzen oder Massakern führt. Jedenfalls spreche ich den Sicherheitsmann an und bitte ihn um die Telefonnummer des Veranstalters.

Der Sicherheitsmann schaut wie die Sphinx von Giseh, ehe er sagt: „Die kann ich Ihnen nicht geben. Datenschutzgründe.“

Datenschutzgründe. Peter Schaar wäre begeistert, ich indes nicht. Wenn ich hier nicht reinkomme, ist der Abend gelaufen, nichts anderes lässt sich sinnvoll noch alternativ beginnen und beenden, dieses Konzert muss es sein, sonst bleibt nur Motzen oder Massaker. Datenschutzgründe!

Jetzt mischt sich sein Kollege ein, Sicherheitsmann Nr. 2. „Ich rufe ihn an“, sagt er. Interessant. Doch interessanter noch als diese frappierend gandhieske Geste eines Menschen, dessen Qualitäten mir bisher zuvörderst physiologischer Natur zu sein schienen, ist seine Begründung dafür.

„Ich habe“, sagt er mit entschuldigender Färbung, „eine Flatrate.“

Er hätte mir also andernfalls nicht einmal die Chance gegeben, ihm die circa 23 Cent in bar zu erstatten. Das Konzert ist dann übrigens nur mittelmäßig, und als ich es deutlich vor den Zugaben wieder verlasse, drücke ich mich zwischen Gästelistenhupfdohle und Sicherheitsmännern hindurch, als müsste ich ein schlechtes Gewissen haben.

Dafür hätte ich mich eigentlich links und rechts ohrfeigen sollen, doch zu Hause vorm Spiegel war dieser Gedanke bereits wieder in weite Ferne gerückt.


29 Oktober 2009

Gelebte Gastfreundschaft

„Klar kannst du dort parken, am Samstagabend patroullieren sie hier nicht“, sage ich mit ortskundigem Selbstbewusstsein zum Schwiegervater.

Einige Stunden später, kurz nachdem Ms. Columbo meiner Schwiegermutter im Rahmen einer virtuos inszenierten Kettenreaktion (Plastikflasche auf Weinglas, Rotwein auf Bluse) die Oberbekleidung gebatikt hat, entdeckt Schwiegervater vom Balkon aus was? Ein Knöllchen an der Windschutzscheibe.

Kurz: Es hätte insgesamt besser laufen können mit dem Besuch aus Wolfsburg (Foto). Enterben werden sie uns wohl trotzdem nicht.

Nehme ich zumindest mal an.

Ein kleiner Schabernack auf meine Kosten

Heute trieb die für die Gestaltung meines Alltags zuständige Instanz (wieder mal) einen kleinen Schabernack mit mir.

Als ich morgens ins Büro aufbrechen wollte, regnete es. Also beschloss ich, mit dem 37er-Bus zu fahren. An der Haltestelle stellte ich jedoch fest, dass ich meine Abokarte vergessen hatte.

Aus Geiz taperte ich zurück zur Seilerstraße (Beispielfoto), um die Karte zu holen. Inzwischen hatte es aufgehört zu regnen. Also entschied ich mich, nun doch das Fahrrad zu nehmen.

Ich erwähne jetzt nicht die Tatsache eines überraschenderweise platten Vorderreifens, der erst einmal aufgepumpt werden wollte; nein, entscheidender war der exakt auf halber Strecke einsetzende kräftige Herbstregen.

Ich verbuche es daher als kleine unverdiente Großherzigkeit der für die Gestaltung meines Alltags zuständigen Instanz, dass mich unterwegs der 37er-Bus nicht überholte. Auch ein solcher Tag hat Glücksmomente.

Gut: klitzekleine.

28 Oktober 2009

Intelligenzbestien unter sich

Seit einiger Zeit lungert täglich ein großer schwarzer Hund vorm Fahrradladen in der Detlev-Bremer-Straße herum.

Wahrscheinlich gehört er dem Besitzer, und der kann oder möchte sich keinen Hundesitter leisten. Also muss der große Schwarze seine Tage auf dem Gehweg verbringen, den er dabei mit hoher Effizienz versperrt.

Erschwerend hinzu kommt sein mangelndes Einfühlungsvermögen. Der Hund weigert sich zu begreifen, dass er a) ein Hindernis darstellt, zumal für Fahrradfahrer wie mich, die sich illegalerweise auf dem Gehweg fortzubewegen wünschen, und b) sich gefälligst zu trollen hat, wenn ein Mitglied der (aus seiner Sicht) herrschenden Klasse dahergeradelt kommt.

Denn nähert man sich ihm, so glotzt er zwar fried- und zutraulich, doch er rafft nicht, dass die Art, wie er sich in seiner großen schwarzen Massigkeit schrägquer im Durchgang aufbaut oder gar hinfläzt, jedwedes kollionslose Passieren verunmöglicht.

Bei Tauben ist mir ein verwandtes Phänomen aufgefallen. Kommt man angeradelt, fliehen sie zwar in letzter Millisekunde, doch nicht nach dem Motto „Schnell weg“, sondern erst einmal flatternd vors Vorderrad, so dass ich mich jedes Mal verärgert beim Bremsreflex ertappe, wobei doch ein aufstiebendes Taubenfedermeer die weit größere Befriedigung ergäbe.

Natürlich kommt die Taube stets davon, trotz ihres widersinnigen Fluchtkurses. Doch zurück zum Hund. Der steht oder liegt stoisch da und glotzt. Woher rühren noch mal die Behauptungen von der Intelligenz des Canis lupus familiaris? Bestimmt stammen sie vom gleichen Forscher, der sich beim Eisengehalt des Spinats um mehrere Kommastellen vertat.

Allein dass Hunde sich bereits vor Urzeiten ins Haustierdasein fügten und ihre seither ungebrochene Versklavung selbst durch Reeperbahnpunks oder grenzdebile Herrchen anscheinend ohne jeden revolutionären Impuls glotzend und gehwegversperrend fortzuführen gedenken, widerlegt m. E. die Intelligenzthese nachhaltig.

Dem großen schwarzen Hund bin ich gleichwohl bisher noch nie über den Schwanz gefahren, obwohl er es geradezu darauf anlegt. Nein, ich steige ab und schiebe.

Was das über meine Intelligenz aussagt, habe ich bisher noch nicht rausgefunden.

27 Oktober 2009

Das Strichfrauchen

Sie ist blond, trägt im Bauch-Rücken-Kurs immer ein hautenges rosa Shirt zu Wurstpellenleggings und gehört zu jenem Typ Frau, den die Brigitte nicht mehr im Heft haben will.

Nur eins an ihr sieht nicht nach Sahelzone aus: die außergewöhliche Doppelwölbung am Oberkörper.

Wenn sie auf Kommando ins „Brett“ geht, sich also auf Ellbogen und Fußspitzen stützt und den Rumpf in der Schwebe durchstreckt, eilen die Fitnesstrainer auffällig oft herbei, fassen ihr links und rechts zart an die Rippen (mehr ist da nämlich nicht als Rippen) und korrigieren ihre Haltung.

Andere Kursteilnehmer können in ihrer Übungsausführung noch so sehr an Hängebauchschweine (Foto: HAH) erinnern, das ist den Trainern egal. Sie kümmern sich nur um die Körperspannung des Strichfrauchens.

Und das, liebe Brigitte et. al., heißt nichts anderes als: Eure ganzen Kampagnen gegen Magermodels werden ins Leere laufen. Das sagt der amtliche Fitnesstrainerlackmustest, der hiermit offiziell in der Welt ist.

Verifikationsanfragen bitte an Karl Lagerfeld.



26 Oktober 2009

Der designierte Containerkanzler

Heute dämmerte mir zu meiner nicht geringen Bestürzung, dass erstmals in der Geschichte der Menschheit ein Mann, der eine Zeit im „Big Brother“-Container in Köln-Ossendorf verbracht hat, demnächst nur noch eine Zyankalikapsel weit davon entfernt sein wird, Kanzler der Bundesrepublik Deutschland zu werden:

Guido Westerwelle.

Auf den Trichter brachte mich eine unverhoffte Begegnung im Fitnessstudio. Neben mir mühte sich nämlich ein einstiger „Big Brother“-Insasse. Es war jedoch nicht Westerwelle, sondern mit hoher Wahrscheinlichkeit „Mark“ aus Staffel 5.

Ja, verdammt: Ich habe Staffel 5 gesehen – und erwarte nun demütigst das umstandslose Geteert- und Gefedertwerden, doch ohne diesen Fernsehfauxpas wäre zweifellos die oben artikulierte Erkenntniskette (Guido, Zyankali, Kanzler) nicht zustande gekommen.

So hat selbst „Big Brother“ noch sein Gutes.


Foto: Wikipedia

25 Oktober 2009

Fundstücke (61): Über Gott und die Welt



1. Wie betrüblich es um die monotheistischen Religionen bestellt ist, dokumentiert u. a. die beschämende Followerzahl von Gott bei Twitter: lediglich 116 Schäfchen wollen Sein Wort hören. Doch auch Er leidet unter Weltekel und interessiert sich nur noch für 49 seiner Geschöpfe. Konsequenterweise hat Er seit einem Monat nichts mehr getwittert. Ja, es ist ein Elend.

2. Budnikowsky bietet eins der hartnäckigsten Nester von Deppenleerzeichen auf ganz St. Pauli. Da müsste mal der Deppenleerzeichenkammerjäger durchmarodieren; ein Job, für den ich keineswegs unterqualifiziert wäre. „Dieser Bereich ist Kamera“, heißt es etwa kryptisch auf einem Schild über der Kasse. In einer weiteren Zeile hält uns das Schild dann ein unmotiviertes „überwacht“ vor die Nase, und man ahnt, was die Budnikowskys semantisch im Sinn hatten, als sie dem Schildermacher diesen debilen Auftrag erteilten. Die Deppenleerzeichenmarotte erstreckt sich sogar bis aufs Sortiment. Im Alnatura-Regal zum Beispiel findet sich ein „Berg Linsen“. Immerhin lässt das den Kilopreis von 3,98 Euro nicht gerade überteuert wirken.



3. „Pizza, ital. Art“ klingt wie „Eulen nach Vogelart“, jedenfalls betäubend tautologisch. Dafür sind aber immerhin weder Gott noch Budnikowsky verantwortlich, sondern ganz allein Würzburg.


24 Oktober 2009

Kahl und Kähler

Als ersten aus der legendären Ur-Titanic-Mannschaft lernte ich einst Ernst Kahl kennen. Und heute, als zweiten, Richard Kähler (Foto), mit dem ich im Miller zusammensaß bei Espresso, Spaghetti und Maracujasaft.

Kahl und Kähler: Das klingt nach einer ausnehmend logischen Abfolge.

Für Satirezeitschriften zu arbeiten scheint – so ein erstes, frühes Fazit, das freilich noch einer hoffentlich bald verbreiterbaren empirischen Basis bedarf – ernste Auswirkungen auf die Persönlichkeitsbildung zu haben; diese Leute sind nämlich alle verteufelt sympathisch, gebildet, eloquent und durchweg liebenswert.

Könnte Mahmoud Ahmadinedschad nicht auch mal bei einer Satirezeitschrift anheuern, wenigstens als Praktikant?

Aber das Leben ist nun mal kein Wunschkonzert, sonst wäre zum Beispiel auch Klaus Kinski noch gar nicht tot, sondern hätte gerade seinen 83. Geburtstag gefeiert – und dieser listige Schlenker gibt mir die willkommene Gelegenheit, noch mal die Umstände meines Erwerbs einer wertvollen Devotionalie in Erinnerung zu rufen.

Dieser Text ist eine Linkhölle, ich weiß. Und das Foto bei Kähler stibitzt.


22 Oktober 2009

„Ich bin ein Nichts“



Wenn Gunter Gabriel Radiohead covert, sollte man eigentlich ergriffen oder erschüttert schweigen, je nachdem. Doch ich sollte vorher noch schnell erwähnen, dass heute Abend auch die Schauspielerin, Totschlägerin und Dschungelkönigin Ingrid van Bergen beim Konzert im Knust auftauchte.

Die Gute ist 78, verfügt aber noch über eine gleichsam mädchenhafte Beweglichkeit, und wenn auch ihrem Gesicht bereits jedes der 78 Jahre brutalstmöglich imprägniert ist, so versteht es die Bergen doch virtuos, ihr ungebrochen kregles Wesen auch outfitmäßig perfekt überzubetonen.

Sie lief auf mit Rockerlederjacke und strohdummblonden Haaren, ihre Pumps waren spitz wie ein Brieföffner, und an ihren kurzen 78-jährigen Fingern trug sie silberne Ringe von jener speziellen Wuchtigkeit, wie sie Türsteher auf dem Kiez zum versonnenen Seufzen bringt.

So, und jetzt Gabriel hören, ergriffen oder erschüttert, je nachdem.